10. April 2013

Wie Kompetenz die Bildung verändert

Roland Reichenbach macht sich Gedanken zur Kompetenzorientierung, wie sie im Lehrplan 21 eingefordert wird. 

Niemand kann gegen die Förderung von Kompetenzen und den kompetenzorientierten Unterricht sein - zumindest auf den ersten Blick. Seit über zehn Jahren kursiert in der Bildungslandschaft die Zustimmung heischende «Definition» nach Weinert (2001), wonach Kompetenz als das Zusammenspiel von Wissen, Motivation, Werte-Orientierung, Einstellungen und Emotionen zu verstehen sei. Diese «Ganzheitlichkeit» will begrüsst werden, doch dann ist nachzufragen, wie sich all diese Aspekte in einem Konzept, das theoretischen und praktischen Kriterien standhalten soll, überhaupt zusammen denken lassen.
Diese «Definition» ist denn auch eher von rhetorischer als theoretischer Bedeutung und hat in der Umsetzung der Kompetenzorientierung ihre Überzeugungsfunktion erfüllt. Mitunter wird behauptet, dieses «realistische» (?) Kompetenzmodell habe das «idealistische» Bildungsdenken nun endlich ersetzt. Wie sieht aber die Realität der Kompetenzorientierung aus?
Die Weinert'sche Lyrik verdunstet darin schnell, geht es doch allein um die Entwicklung und empirische Prüfung von theoretischen Kompetenzmodellen, aus denen sogenannte psychometrische Messmodelle und -verfahren zur empirischen Erfassung von Kompetenzen entwickelt werden sollen. Schliesslich interessiert, «was die Nutzung von Diagnostik und Assessment zu fundierten und präzisen Entscheidungen in der pädagogischen und bildungspolitischen Praxis beiträgt» (Klieme, Leutner und Kenk). Das ist ein ambitiöses Programm, und man fragt sich, ob sich der ganze Aufwand lohnen kann und was die Motive dieser Umwälzungen sind.
Die erste Frage kann bisher niemand beantworten. Um die zweite Frage zu beantworten, muss man sich vor Augen führen, dass die Kompetenzorientierung eine Folge der Etablierung von Bildungsstandards darstellt und diese wiederum eine Folge der «Forderung» nach internationaler, nationaler und regionaler Vergleichbarkeit schulischer Leistungen sind. Das soll der Qualitätssicherung dienen. Der Kopf will gleich nicken, wenn behauptet wird, die Vergleichbarkeit und Evaluation von schulischen Leistungen - also letztlich die Kompetenzorientierung - diene der Qualitätssicherung. Tatsächlich ist die Stützung dieser Behauptung, um eine Argumentation Helmut Heids aufzugreifen, kaum zu leisten: Denn erstens muss gezeigt werden, dass die in einem Bildungsstandard kodifizierten und erreichten Kompetenzen auf schulisches Lernen zurückgeführt werden können, dasselbe zweitens auf entsprechend günstige Lehrtätigkeiten, diese drittens auf die Kompetenz der Lehrperson, welche sie viertens in der Aus- und Weiterbildung erworben hat, die fünftens von der empirischen Bildungsforschung massgeblich geprägt worden ist. Wenn dies gezeigt werden könnte - das ist methodisch nahezu unmöglich, auch ist unser Leben dazu zu kurz -, wäre ein Zusammenhang von standardisierter Leistungsmessung und Qualitätssicherung zu behaupten.
Diese Kritik bedeutet keineswegs, gegen Kompetenzorientierung und Evaluationen zu sein: Jede Lehrperson hat das Lernen der Schüler und Schülerinnen angemessen zu beurteilen. Und Kompetenzen zu entwickeln und zu fördern, ist eine anthropologische Konstante. - Problematisch ist vielmehr, dass die oberste Kategorie, welche alle Subkompetenzen unter sich vereinigt, in der Handlungskompetenz gesehen wird: Das kompetente Individuum soll vor allem handeln können, überhaupt können (im Sinne von Verfügungswissen anwenden). Die Lernziele werden nur noch im Muster des Könnens formuliert, nicht des Wissens, Verstehens, Interesses am Gegenstand oder der Erweiterung der Perspektive auf die Welt. Die so passenden wie unreflektierten Slogans heissen «Von Stoffen zu Kompetenzen» oder «Vom Lehren zum Lernen». Damit ist der Anerkennung des Wissens - der Stoffe - und der Lehrtätigkeit - der Lehrpersonen - kaum gedient.
Auch die behauptete strikte Stufung der Kompetenzen ist fraglich. Natürlich scheint der didaktische Weg jeweils vom Einfachen zum Schwierigen zu gehen. Doch die Gegenstände sträuben sich. Whitehead hat vor 100 Jahren (!) kritisch kommentiert: «Im Gegenteil, einige der schwersten [Gegenstände] müssen zuerst kommen, weil die Natur es so vorschreibt und weil sie essenziell für das Leben sind. Die erste intellektuelle Aufgabe, mit der ein Kind konfrontiert wird, ist die Aneignung von gesprochener Sprache. Was für eine entsetzliche Aufgabe, Bedeutungen und Laute miteinander in Beziehung zu setzen!» Natürlich trifft der Einwand, wonach man, bevor man Homer lese, überhaupt lesen gelernt haben müsse, aber schon das Kind kann sich für die Irrfahrten des Odysseus interessieren, wenn sie ihm erzählt werden. Whiteheads Fazit zu allzu stark verfolgten Ordnungsbemühungen: «Die unkritische Anwendung des Prinzips der notwendigen Vorgängigkeit einiger Gegenstände vor anderen hat, in den Händen beschränkter Menschen mit einem Hang zur Organisation, in Erziehung und Bildung die Trockenheit der Sahara erzeugt.»
Die Trockenheit der Sahara wird mit einem rein kompetenzorientierten Unterricht wohl nicht vollständig erzeugt. Doch die Eintönigkeit eines einzigen und ausschliesslichen Zugangs zu Bildung und Unterricht - heute der Kompetenzorientierung - ist unnötig. Das Beste an den Wüsten bleiben die Oasen. Die Effekte der zunehmenden Monokultur in der Bildungslandschaft werden erst in einigen Jahren analysiert werden können.
Quelle: NZZ, 10.4.

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