Niemand kann
gegen die Förderung von Kompetenzen und den kompetenzorientierten Unterricht
sein - zumindest auf den ersten Blick. Seit über zehn Jahren kursiert in der
Bildungslandschaft die Zustimmung heischende «Definition» nach Weinert (2001),
wonach Kompetenz als das Zusammenspiel von Wissen, Motivation,
Werte-Orientierung, Einstellungen und Emotionen zu verstehen sei. Diese
«Ganzheitlichkeit» will begrüsst werden, doch dann ist nachzufragen, wie sich
all diese Aspekte in einem Konzept, das theoretischen und praktischen Kriterien
standhalten soll, überhaupt zusammen denken lassen.
Diese
«Definition» ist denn auch eher von rhetorischer als theoretischer Bedeutung
und hat in der Umsetzung der Kompetenzorientierung ihre Überzeugungsfunktion
erfüllt. Mitunter wird behauptet, dieses «realistische» (?) Kompetenzmodell
habe das «idealistische» Bildungsdenken nun endlich ersetzt. Wie sieht aber die
Realität der Kompetenzorientierung aus?
Die
Weinert'sche Lyrik verdunstet darin schnell, geht es doch allein um die
Entwicklung und empirische Prüfung von theoretischen Kompetenzmodellen, aus
denen sogenannte psychometrische Messmodelle und -verfahren zur empirischen
Erfassung von Kompetenzen entwickelt werden sollen. Schliesslich interessiert,
«was die Nutzung von Diagnostik und Assessment zu fundierten und präzisen
Entscheidungen in der pädagogischen und bildungspolitischen Praxis beiträgt»
(Klieme, Leutner und Kenk). Das ist ein ambitiöses Programm, und man fragt
sich, ob sich der ganze Aufwand lohnen kann und was die Motive dieser
Umwälzungen sind.
Die erste Frage
kann bisher niemand beantworten. Um die zweite Frage zu beantworten, muss man
sich vor Augen führen, dass die Kompetenzorientierung eine Folge der
Etablierung von Bildungsstandards darstellt und diese wiederum eine Folge der
«Forderung» nach internationaler, nationaler und regionaler Vergleichbarkeit
schulischer Leistungen sind. Das soll der Qualitätssicherung dienen. Der Kopf
will gleich nicken, wenn behauptet wird, die Vergleichbarkeit und Evaluation
von schulischen Leistungen - also letztlich die Kompetenzorientierung - diene
der Qualitätssicherung. Tatsächlich ist die Stützung dieser Behauptung, um eine
Argumentation Helmut Heids aufzugreifen, kaum zu leisten: Denn erstens muss
gezeigt werden, dass die in einem Bildungsstandard kodifizierten und erreichten
Kompetenzen auf schulisches Lernen zurückgeführt werden können, dasselbe
zweitens auf entsprechend günstige Lehrtätigkeiten, diese drittens auf die
Kompetenz der Lehrperson, welche sie viertens in der Aus- und Weiterbildung
erworben hat, die fünftens von der empirischen Bildungsforschung massgeblich
geprägt worden ist. Wenn dies gezeigt werden könnte - das ist methodisch nahezu
unmöglich, auch ist unser Leben dazu zu kurz -, wäre ein Zusammenhang von
standardisierter Leistungsmessung und Qualitätssicherung zu behaupten.
Diese Kritik
bedeutet keineswegs, gegen Kompetenzorientierung und Evaluationen zu sein: Jede
Lehrperson hat das Lernen der Schüler und Schülerinnen angemessen zu
beurteilen. Und Kompetenzen zu entwickeln und zu fördern, ist eine
anthropologische Konstante. - Problematisch ist vielmehr, dass die oberste
Kategorie, welche alle Subkompetenzen unter sich vereinigt, in der
Handlungskompetenz gesehen wird: Das kompetente Individuum soll vor allem
handeln können, überhaupt können (im Sinne von Verfügungswissen anwenden). Die
Lernziele werden nur noch im Muster des Könnens formuliert, nicht des Wissens,
Verstehens, Interesses am Gegenstand oder der Erweiterung der Perspektive auf
die Welt. Die so passenden wie unreflektierten Slogans heissen «Von Stoffen zu Kompetenzen»
oder «Vom Lehren zum Lernen». Damit ist der Anerkennung des Wissens - der
Stoffe - und der Lehrtätigkeit - der Lehrpersonen - kaum gedient.
Auch die
behauptete strikte Stufung der Kompetenzen ist fraglich. Natürlich scheint der
didaktische Weg jeweils vom Einfachen zum Schwierigen zu gehen. Doch die
Gegenstände sträuben sich. Whitehead hat vor 100 Jahren (!) kritisch
kommentiert: «Im Gegenteil, einige der schwersten [Gegenstände] müssen zuerst
kommen, weil die Natur es so vorschreibt und weil sie essenziell für das Leben
sind. Die erste intellektuelle Aufgabe, mit der ein Kind konfrontiert wird, ist
die Aneignung von gesprochener Sprache. Was für eine entsetzliche Aufgabe,
Bedeutungen und Laute miteinander in Beziehung zu setzen!» Natürlich trifft der
Einwand, wonach man, bevor man Homer lese, überhaupt lesen gelernt haben müsse,
aber schon das Kind kann sich für die Irrfahrten des Odysseus interessieren,
wenn sie ihm erzählt werden. Whiteheads Fazit zu allzu stark verfolgten
Ordnungsbemühungen: «Die unkritische Anwendung des Prinzips der notwendigen
Vorgängigkeit einiger Gegenstände vor anderen hat, in den Händen beschränkter
Menschen mit einem Hang zur Organisation, in Erziehung und Bildung die
Trockenheit der Sahara erzeugt.»
Die Trockenheit
der Sahara wird mit einem rein kompetenzorientierten Unterricht wohl nicht
vollständig erzeugt. Doch die Eintönigkeit eines einzigen und ausschliesslichen
Zugangs zu Bildung und Unterricht - heute der Kompetenzorientierung - ist
unnötig. Das Beste an den Wüsten bleiben die Oasen. Die Effekte der zunehmenden
Monokultur in der Bildungslandschaft werden erst in einigen Jahren analysiert
werden können.
Quelle: NZZ, 10.4.
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