25. Juli 2013

An den Pranger gestellt

Franziska Laur warnt erneut vor den Folgen des Experiments mit der Integration von behinderten Kindern in die Regelklassen. Dabei lässt sie tüchtig Dampf ab auch in Richtung der verantwortlichen Bildungsdirektion. Der Titel ihres Kommentars "An den Pranger gestellt" lässt offen, ob sie dabei die integrierten Kinder oder die Verantwortlichen meint.
Die Integration von Schülern mit einer Lernbe­hinderung in die Regelklassen hat zur Folge, dass sich ein Heer von Experten und Therapeuten in den Klassenzimmern tummelt. Lehrer müssen mit Hilfspersonen Absprachen treffen, Krankheitsgeschichten diskutieren und Evaluationsfachleuten Daten liefern. Dabei möchten sie sich einfach ihrem Kernthema, dem Unterrichten, widmen.
Sie haben ihren Beruf gewählt, weil sie dachten, sie seien dazu da, junge Menschen, je nach Begabung, als Köche oder Akademiker auf ihren Lebensweg schicken zu können. Doch heute steht in der Bildungspolitik die Frage im Vordergrund, wie man möglichst allen zu einer Karriere ­verhelfen kann, für die sich nur wenige eignen. Die Bildungspolitiker unserer Tage wiegen sich im ­Glauben, die ungleiche Leistung der Schüler sei allein aufgrund mangelnder Anstrengung der Lehrer zustande gekommen. In tätiger Reue und mit einer Fülle von Reformen soll dieses vermeintlich pädagogische Versagen zurechtgebogen werden. Dabei ­verschliessen sie die Augen vor der Tatsache, dass sie mit ihren realitätsfernen Ansprüchen den Lehrkörper schwächen und Unsicherheit und Unruhe schüren.
Kommt hinzu, dass vielen Kindern mit Lernbehinderung mit der Integration in Regelklassen ein Bärendienst erwiesen wird. Sie ­fühlen sich durch die Dauerbeobachtung und Überbetreuung an den Pranger gestellt und ihrer Würde beraubt. Sie müssen täglich erleben, dass andere schneller und klüger sind, sie finden kaum Freunde und sind ständig Aussenseiter.
Keine Frage, eine starke Klasse hält den einen oder anderen Schüler mit Eigenheiten oder Lernschwächen aus. Doch es kann nicht sein, dass mit einer therapeutischen Dauerberieselung eine sozialromantische Vision alltagsferner Bildungspolitiker umgesetzt wird, ohne dass auch nur einer der Betroffenen davon profitiert.
Denn an der Front müssen Lehrer schon genug kämpfen, um mit den vielen Reformbaustellen und den modernen Formen der Didaktik klarzukommen. Denn viele Schüler sind mit Gruppenarbeiten und selbst­ständigem Lernen völlig überfordert. Sie können mit der grossen Freiheit, wechselnden Bezugspersonen und diffusen Anweisungen schlecht umgehen und sehnen sich danach, einen soliden Ansprechpartner zu haben, der klare, erfüllbare Ansprüche stellt. Dies sollten sich auch Bildungsbehörden zu Herzen nehmen: Ansprüche stellen, die Pädagogen erfüllen können, und nicht meinen, die Schule könne alle Probleme dieser Welt beheben.
Quelle: Basler Zeitung, 25.7. von Franziska Laur

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