8. Juli 2013

Lehrplan 21: "Entinhaltisierung der Schule"

Eine Knacknuss des nun vorliegenden Entwurfs zum Lehrplan 21 ist die Kompetenzorientierung. Ist es überhaupt möglich, die aufgelisteten Kompetenzen zu lehren und zu überprüfen? Der folgende Text von Mathias Binswanger kritisiert die Kompetenzorientierung scharf und konstatiert eine Schule ohne Inhalt.
Das neue Zauberwort in der Bildung heisst «Kompetenzorientierung». Dies ist auch die zentrale Richtlinie des letzte Woche von den Erziehungsdirektorinnen und -direktoren der 21 Deutschschweizer Kantone in die ­Konsultation geschickten neuen Lehrplans 21. Zu dieser «Kompetenzorientierung» ­gehört zwar auch noch etwas Wissen, doch dieses wird zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Schliesslich gibt es heute das Internet, wo man alles Wissenswerte nachschauen kann, und da braucht man das Gehirn nicht mehr mit ­Wissen zu belasten. Also kann man sich von der alten «Paukerschule» verabschieden und den Schülern stattdessen den Erwerb neuer wichtiger überfachlicher Fähigkeiten wie «methodische Kompetenzen» (z.B. Informa­tion nutzen), «so­ziale Kompetenzen» (z.B. Koope­rations­fähigkeit) oder «personale Kompetenzen» (z.B. Selbstreflexion) ermöglichen.
«Kompetenzorientierung» bedeutet somit in der gelebten Realität, dass der Unterricht ­seines Inhalts entleert wird. Das ist aber einer tatsächlich relevanten Bildungsqualität nicht förderlich. Wir brauchen nicht Schüler, die lernen, wie man sich bestimmter Worthülsen bedient, ohne zu verstehen, was damit eigentlich gemeint ist. Doch genau in diese Richtung geht auch der Lehrplan 21.
Zwar behaupten die Erziehungsdirektoren, dass mit dem Lehrplan 21 die inhaltlichen ­Ziele der Volksschule in den Kantonen harmonisiert werden. Was aber in Wirklichkeit harmonisiert wird, sind abstrakte Formulierungen, bei denen es um Ziele, Kompetenzen, Strategien und Fokussierungen geht, die vom tatsächlichen Schulalltag meilenweit entfernt sind. Wie in anderen Politikbereichen wird auch in der Bildung zunehmend ein intellektuell klingendes Geschwätz auf Metaebenen zelebriert, das sich in der Realität als hohle Phrasendrescherei entpuppt.
Letztlich ist der Lehrplan 21 von der hehren Vorstellung geprägt, man könne die Schulen von oben herab zentralistisch steuern und damit immer kompetentere Menschen heranbilden. Doch das ist eine Illusion. Lehrerfolg und Bildungsqualität hängen in erster Linie von der konkreten Lernsituation ab und nicht von immer grossartiger formulierten Lehrplänen. Selbst wenn man wie im Lehrplan 21 Hunderte von abstrakten Kompetenzen definiert und formuliert, wird dadurch das tatsächliche Können der Schülerinnen und Schüler noch lange nicht verändert. Dazu braucht es konkret vermittelten Lernstoff, wozu es umso eher kommt, je weniger Lehrer durch immer zahlreichere abstrakte Vorgaben behindert und demotiviert werden. Es ist eine vollkommene Illusion, wenn man glaubt, Kompetenzen wie Selbst­reflexion, Eigenständigkeit, Beziehungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit oder das Vermögen, ­Informationen zu nutzen, liessen sich in der Schule dadurch erlernen, dass sie in einem Lehrplan festgeschrieben werden.
Die fehlende Realitätsnähe der «Kompetenz­orientierung» zeigt sich schon bei der Definition. So heisst es in den Grundlagen zum Lehrplan 21: «Mit der Kompetenzorientierung ergibt sich eine veränderte Sichtweise auf den Unterricht. Lernen wird verstärkt als aktiver, selbstgesteuerter, reflexiver, situativer und konstruktiver Prozess verstanden.» Das klingt alles sehr wichtig und kompetent. Nur, was das konkret heisst, bleibt im Dunkeln. Hier geht es um typische Begriffe in der heutigen Bildungslandschaft, die alles und nichts aus­sagen. Der gesunde Menschenverstand sagt uns bereits, dass jedes Lernen, welches diesen Namen verdient, konstruktiv sein muss, und es lässt sich auch gar nicht anders als situativ vermitteln. Wozu dann also solche nichtssagenden Worthülsen?
Die Erziehungsdirektoren glauben offenbar, dass sich diese inhaltsleeren Begriffe auch noch dazu eignen, die Bildungsqualität in verschiedenen Schulen zu überprüfen. Denn, so wird argumentiert, bei vielen traditionellen Lehrplanformulierungen lässt sich nur vage beurteilen, ob die Schülerinnen und Schüler die Ziele auch wirklich erreicht haben. Der Lehrplan 21 soll hier mit seinen präziseren Können-Formulierungen mehr Klarheit schaffen. Aus diesem Grund seien die im Lehrplan beschriebenen Kompetenzen klar und messbar formuliert. Das zumindest behauptete Christian Amsler, der Präsident der deutschsprachigen Erziehungsdirektorenkonferenz, in einem in der NZZ publizierten Streitgespräch mit SVP-Politiker Ulrich Schlüer.
Nun zeichnen sich wahre Kompetenzen aber gerade dadurch aus, dass sie nicht exakt fassbar und nicht messbar sind. Dass dies dem verantwortlichen Bildungsdirektor nicht ­bewusst ist, stimmt nachdenklich. Wie soll man etwa überprüfen, ob Schüler wichtige Veränderungen und Entwicklungen in Städten charakterisieren können? Oder wie will man messen, ob Schüler in verschiedenen Erfahrungsbereichen (etwa Generationen, Peers, Schule, Religion, Kunst) und Fachgebieten (etwa Geschichte, Biologie, Physik, Recht, Ökonomie) unterschiedliche Fragestellungen und Weltsichten erkennen können? Dies sind nur zwei Beispiele von im Lehrplan 21 formulierten Kompetenzen, die deutlich machen, dass die Behauptung der Messbarkeit in diesem Zusammenhang absurd ist. Hier wird eine Scheinpräzision in Bezug auf Kompetenzen vorgegaukelt, die in Wirklichkeit weder überprüfbar noch messbar sind.
Schauen wir uns den Lehrplan 21 aber noch ­etwas konkreter an. Dieser teilt sich auf in sechs Fachbereiche (z.B. Mathematik oder Sprachen), drei fächerübergreifende Themen (z.B. ICT und Medien) sowie in die eingangs erwähnten überfachlichen Kompetenzen. Nehmen wir zum Beispiel den Religionsunterricht. Klar, dass dies in einem modernen Lehrplan eine vollkommen veraltete Bezeichnung darstellt. Denn Religionsunterricht im traditionellen Sinn ist für einen modernen Lehrplan viel zu konkret und wissensorientiert. Dort lernte man in früheren Zeiten ­nämlich vor allem die Geschichten der Bibel kennen, und dies auch noch völlig unreflektiert und ohne dass der Bibel andere Religionsentwürfe gegenübergestellt wurden. So etwas darf bei «Kompetenzorientierung» nicht mehr sein.
Deshalb ist Religionsunterricht jetzt Teil des Kompetenzaufbaus «Natur, Mensch, ­Gesellschaft», wozu der Teilbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft (mit Lebenskunde)» gehört. Was in der Bibel konkret steht, brauchen Schüler nicht mehr zu wissen, denn auch das lässt sich mittlerweile im Internet nachschauen. Gemäss Lehrplan 21 können die Schüler hingegen neu «in alltäglicher Umgebung, in kulturellen Lebensweisen oder ­Lebensstilen religiöse Symbole identifizieren und im ­Kontext ihrer Verwendung deuten». Oder sie «können in der Werbung Motive ­religiöser Traditionen erkennen sowie ihre religiöse Herkunft und ihre Verfremdung ­erschliessen».
Das ist alles schön und gut, doch solche Kompetenzen ohne Wissen sind sinnlos. Ohne die Bibel und damit die eigene Religion zu kennen, verkommen die im Teilbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» formulierten Kompetenzen zu hohlen Phrasen. Erst wenn man die Geschichten der Bibel kennt, kann man in der Schule auch «Verfremdungen religiöser Traditionen erschliessen». Hier ­haben wir ein konkretes Beispiel für Ent­inhaltisierung des Unterrichts. Schüler und Schülerinnen werden dazu erzogen, pseudokompetent über Dinge zu reflektieren und zu diskutieren, die sie in Wirklichkeit nicht kennen und nicht verstehen. Das entspricht exakt auch unserer gesellschaftlichen Tendenz, wonach immer mehr Menschen und insbesondere auch Politiker «kompetent» über Dinge sprechen, von denen sie in Wirklichkeit keine Ahnung haben. Doch solange die Diskussion nur um abstrakte Begriffe wie «Strategien», «Kompetenzen» oder «Fokussierungen» geht, braucht man vom Inhalt auch nicht viel zu wissen. Eine solche inhaltsleere Geschwätzkultur sollte aber nicht auch noch zur Basis unserer Lehrpläne werden.
Ein anderes Beispiel ist die Wirtschaft. Diese ist im Lehrplan 21 ebenfalls Teil des Kompetenzaufbaus «Natur, Mensch, Gesellschaft» und erscheint dort im Teilbereich «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt». Da sollen dann die Schüler über folgende Kompetenzen verfügen: «Sie können soziokulturelle Bedingungen (z.B. Einfluss der Peers, Rolle der Medien, aktuelles Marktangebot) beim Konsumieren erkennen und deren Einfluss auf eigene Konsumhandlungen reflektieren.» Oder «sie können verantwortungsbewusste Konsumentscheide charakterisieren und aufzeigen, welche Zielkonflikte und Unsicherheiten für sie/ihn als Konsument/in dabei entstehen». Das ist alles ein bisschen viel verlangt, wenn man die Funktionsweise der Wirtschaft noch gar nicht versteht und grundlegendes Wissen dazu fehlt.
Es sei hier darauf hingewiesen, dass es auch vernünftig formulierte Kompetenzen gibt, wie etwa den ebenfalls dem Kompetenzaufbau «Natur, Mensch, Gesellschaft» zugehörigen Teilbereich «Schweiz in Tradition und Wandel verstehen». Hier handelt es sich letztlich um das Fach Geschichte, in dessen Zusammenhang der Lehrplan 21 richtig erkannt hat, dass die reine «Kompetenzorientierung» nicht ausreicht. Deshalb ist hier auch klammheimlich wieder die Kenntnis wichtiger Geschichtsdaten und Ereignisse mit in den Lehrplan aufgenommen worden.
Generell gilt also: Es ist gefährlich, die traditionelle Wissensorientierung in der Schule ­einem neuen Modebegriff wie der «Kompetenzorientierung» zu opfern. Wissensorientierung darf jedoch nicht mit sinnloser Pau­kerei gleichgesetzt werden. Doch wo wird das heute noch praktiziert? Der Lehrplan 21 rennt hier offene Türen ein, die man nicht einzurennen braucht. Reines Auswendiglernen hat mit echter Wissensorientierung nichts zu tun. Aber ein gewisses Auswendiglernen gehört ­dazu und ergibt Sinn. Es hilft, wenn man ein paar Eckdaten der Geschichte weiss, auch wenn dies nicht die Daten der Punischen Kriege einige Jahrhunderte vor Christus sein müssen. Nicht selten sind wir später froh, auf ­unser erlerntes und aufgefrischtes Wissen wie Kopfrechnen, Rechtschreibung oder Geschichte zurückgreifen zu können. Natürlich darf die Schule neben dem reinen Wissen dann auch Kompetenzen vermitteln, aber diese entstehen nicht dadurch, dass sie detailliert und möglichst realitätsfern in einem Lehrplan aufgelistet werden. Sie ergeben sich automatisch im konkreten Schulalltag, da ein guter Lehrer Wissen gar nicht ohne die dazugehörenden Kompetenzen vermitteln kann.
Quelle: Weltwoche 27/13, Kompetenz ohne Wissen von Mathias Binswanger

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