3. Oktober 2013

Altersdurchmischung und Fremdsprachen: Endlich Realitäten ins Auge sehen

Ruedi Arnold von der Basler Zeitung nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht endlich aus, was gesagt werden muss - besonders in der für Experimente offenen Region Basel. Er findet, das Schulprogramm sei fern jeglicher Realität und bezieht sich auf die Beispiele des altersdurchmischten Unterrichts und der Fremdsprachen in der Primarschule. 
«Komm mal mit!», sagte mein Kollege, «du wirst staunen.» Tags darauf stand ich in einem Raum mit 20 Kindern zwischen zehn und 13 Jahren, einer «altersdurchmischten Lerngruppe» von der 4. bis zur 6. Primarklasse. Der «Tag der offenen Tür» fand nicht etwa in der Gesamtschule Lindental (BE) statt, wo mangels Kindern keine andere Art Unterricht möglich ist, sondern in einer grossen Schweizer Stadt. Auf dem Stundenplan stand Französisch. Die Lehrerin hatte ein Spiel vorbereitet, das ihr nur selten Gelegenheit bot, etwas zu sagen. Dennoch war unverkennbar: Die Frau spricht gar nicht französisch, jedenfalls nicht fliessend, nicht fehlerfrei und schon gar nicht so, wie man die Sprache in den Strassen von Paris, Neuenburg oder Nyon spricht. Wie kann man eine Sprache unterrichten, frage ich mich, die man gar nicht beherrscht?
Auf dem Heimweg erfuhr ich mehr über die Erfahrungen meines Kollegen mit der Schule. Erstens gehören 27 Kinder zur Lerngruppe, aber nie sind alle da. Legasthenie, Dyskalkulie, feinmotorische Störungen, Lernschwächen, mangelnde Deutschkenntnisse erfordern separate Betreuung, wofür Fachkräfte zur Verfügung stehen. In dieser Zeit verpassen die Kinder, was die Kerngruppe lernt, was offenbar in Kauf genommen wird. Die Lehrerin ist die dritte innert zwei Jahren, alle drei sehr engagiert, aber zwei haben schon kurz nach ihrem Studium an der Pädagogischen Hochschule wegen Überforderung aufgegeben.
Kaum eine der Lehrpersonen hat noch ein 100-Prozent-Pensum. In der Folge geben sie einander buchstäblich die Klinke des gleichen Klassenzimmers in die Hand. Dass Französisch und Englisch von Lehrkräften unterrichtet werden, die der Sprache nicht gerade unkundig, aber auch nicht Herr sind, habe er schon beim ersten Kind erlebt. Und zu behaupten, altersdurchmischte Gruppen unter diesen Umständen dienten dem Lernen, sei weit mehr Wunschdenken als Wirklichkeit.
Hier drängen sich ein paar Bemerkungen auf. Mein Eindruck vom Unterricht war eine Momentaufnahme, und die Erfahrungen meines Kollegen mögen sich von jenen vieler andern Eltern unterscheiden. Allerdings bestätigt, was ich an diesem Tag gehört und erlebt habe, meine schon lang andauernde Skepsis gegenüber Experimenten mit Kindern. Denn darum handelt es sich. Die Diskussionen unter Bildungstheoretikern, -politikern und leicht begeisterten Lehrkräften drehen sich viel mehr um Ideologie als um Fakten. Altersdurchmischte Klassen würden «Heterogenität als Lernchance für individualisierendes und integratives gemeinsames Lernen nutzen», heisst es in einem Papier der Pädagogischen Hochschule an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Das mag unter Laborbedingungen der Fall sein. Dass sie in der harten Realität für die Kinder besser sind als einzelne Klassenzüge, ist keineswegs bewiesen. Nachgewiesen ist hingegen, dass Kinder mit Frühfranzösisch und -englisch in der Oberstufe gegenüber den Anfängern keine erkennbaren Vorteile haben. Das sei, sagen die Befürworter, weil sie nicht da abgeholt würden, wo sie sprachlich stehen. Auch das ist Realität, weil die öffentliche Volksschule auch beim besten Willen nicht für jede Gruppe und jedes Kind ein eigenes Programm einhalten kann.
Sicher lernt man Fremdsprachen je früher, desto besser. Spielerisch lernen ist auch gut. Nur geht das nicht mit zwei oder drei Wochenstunden und erst recht nicht mit Lehrkräften, welche die Sprache mittelmässig beherrschen. Das British Council, die Organisation mit der weltweit längsten Erfahrung im Sprachunterricht, schreibt: Wer Kinder unterrichtet, muss die Sprache so beherrschen, dass sie für die Schüler ein Vorbild ist. Wo kämen wir hin, wenn die Lehrer im Deutschunterricht fehlerhaft deutsch sprechen würden? Warum soll für Fremdsprachen etwas anderes gelten? Wer aber in der Schweiz Primarschüler unterrichten will, muss beispielsweise das «Cambridge Certificate of Advanced English» vorweisen und sich zwölf Wochen in englischem Sprach-gebiet aufgehalten haben. Zwölf Wochen! Auf Wunsch auch dreimal vier Wochen. Und dann soll die Lehrperson die Sprache nicht nur fliessend, sondern vorbildlich sprechen. Das ist reines Wunschdenken.
Ich kenne Kinder, die in einer zweisprachigen Primarschule waren. Nach der vierten Klasse unterhielten sie sich in den USA ohne Schwierigkeiten mit andern Kindern, nach der sechsten Klasse redeten sie englisch wie deutsch. Denn sie lernten erstens bei Lehrern, die in ihrer Muttersprache unterrichten, zweitens nicht zwei oder drei Lektionen pro Woche. Alle Fächer wurden zur Hälfte deutsch, zur Hälfte englisch unterrichtet.

Ich weiss, das ist an der öffentlichen Volksschule nicht möglich. Längere Sprachaufenthalte kann niemand finanzieren. Und genügend Lehrkräfte mit Englisch oder Französisch als Muttersprache und erst noch einer Lehrbefähigung gibt es wohl nicht. Vielleicht sollte man endlich überlegen, was in der Realität möglich ist – mit den Lehrern, die wir nun mal haben, mit den Schülern, die wir nun mal haben, mit dem Geld, das wir nun mal haben. Was dann als möglich erkannt wird, soll man tun, aber richtig. Es darf nicht sein, dass die Tatsachen so lange verdreht und Schwierigkeiten kleingeredet werden, bis die Schule den Theorien der Bildungsleute entspricht.
Quelle: Ruedi Arnold, Basler Zeitung, 3.10.

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