30. November 2013

„Die Schülerinnen und Schüler können über Macht, Machtbegrenzung und Machtmissbrauch nachdenken (Prinzip der Machtbegrenzung).“

Wir haben es zurzeit lustig in unserem Kollegium. Seit wir uns in unseren Fachgruppen mit dem neuen Lehrplan 21 auseinandergesetzt haben, ist Stimmung angesagt. Kein Tag vergeht, ohne dass ein Kollege oder eine Kollegin uns einen Satz aus den 557 Seiten des neuen Lehrplans zitiert. Die Reaktion ist meistens dieselbe, es wird gelacht, Köpfe werden geschüttelt und Schenkel geklopft.
Heute ist allerdings vielen das Lachen vergangen. Die Nachricht der vom Grossrat beschlossenen Klassenschliessungen ist ebenfalls in unserem Lehrerzimmer gelandet. Folgerichtig fragte eine Kollegin, was denn der ganze „Lehrplan-Mist“ gekostet habe. Sechs Millionen Franken! Und der Schulleiter doppelte nach: 22 Tage Schulung für alle Lehrkräfte seien geplant! Ein anderer fügte hinzu, dass die  Einführung von Frühfranzösisch unseren Kanton insgesamt 60 Millionen Franken kosten werde.
Was anschliessend in Gang gesetzt wurde, war weniger lustig, vor allem für die Urheber dieser Quelle bildungsbürokratischer Segnungen. 557 Lehrer protestieren gegen 557 Seiten Praxisferne, monströse Bildungsprosa, apodiktischer Kompetenzorientierung und das Bestreben, Unterricht auf die Funktionalität einer Kühlhaubenfabrikation reduzieren zu wollen.
Nach einer Stunde „Netztätigkeit“ waren die ersten 100 Unterschriften schon beisammen. Natürlich gab es auch eine mahnende Stimme: Man könne doch nur stoppen, was laufe, und dieser Unfug werde nie laufen. Der ältere Kollege, aus dessen Munde diese Worte kamen, gehört zu der Gattung Lehrkräfte, die weder „JA“ noch „NEIN“ sagen. Er sagt meistens „ja, ja…“! oder „Ausser Spesen nichts gewesen“.
Angesichts der angedrohten Schliessung von Bildungsinstitutionen, kann man hier aber nicht mehr von Spesen sprechen, sondern von einem gewaltigen Ressourcenklau!
Unser oberster Bildungschef meinte auf die Ankündigung dieses Protestes: „Es kann sein, dass der Lehrplan etwas zu engmaschig sei!“ Diesen wunderbaren Satz muss man sich angesichts der im Lehrplan aufgeführten 4753 Teilkompetenzen einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Entweder hat Herr Pulver den Impakt dieses monströsen Regelwerks noch nicht begriffen, oder aber er weiss, worum es geht. Dann ist der Hinweis auf ein bisschen „Viel“ Teil seiner Durchsetzungsstrategie und er ein gerissener Politiker. Ähnlich argumentiert übrigens auch seine Exzellenz Zemp, der Präsident des Schweizerischen Lehrerverbandes, der die fundamentale Kritik „seiner Basis“ gar nicht schön findet.
Das eingangs zitierte Lernziel, wonach man über Machtmissbrauch und Machtbegrenzung nachdenken können soll, mag für Kindergärtner vielleicht etwas hoch gegriffen sein, aber die Lehrkräfte haben diese Kompetenz offensichtlich nach 9 Sparpaketen und vier monumental gescheiterten Bildungsgrossreformen erworben.
Auf eine dilettantische Projektentwicklung wie sie beim LP 21 angewendet wurde, auf nicht berechnete bzw. offengelegte Folgekosten, die nie und nimmer finanziert werden können, auf eine Kopie des US-amerikanischen Kompetenzmodells, von denen in den USA langsam aber sicher Abschied genommen wird, kann es nur eine Antwort geben. Eine fundamentale Ablehnung!
Die Lehrkräfte haben eigentlich nie richtig eingesehen, weshalb, ein Schulsystem, das immer noch zu den besten der Welt gehört, dass eine in Europa einmalige Integrationsleistung erbringt, das an den Lehrlingsweltmeisterschaften Goldmedaillen nur so abräumt, das die meisten Nobelpreisträger pro Kopf hervorbringt und dem Lande eine rekordtiefe Jugendarbeitslosigkeit beschert, plötzlich so immens reformbedürftig sein soll. 
Und weshalb sie sich von Lehrplanflickern, die vermutlich schon bei der Aufgabe, eine Oberstufenklasse in öffentlichen Verkehrsmitteln auf die Eisbahn zu führen, in Existenzängste fallen würden, vorschreiben lassen sollen, wie sie unterrichten müssen, haben sie noch nie richtig akzeptiert. Dafür fehlen ihnen die grundlegenden Kompetenzen oder sie wissen einfach zuviel.
Kolummne von Alain Pichard, publiziert am 30.11. in der Berner Zeitung

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen