5. November 2013

Genug der Lobhudelei

Niemand wünscht sich dumme oder freche Schüler.  Aber in der Realität sind sie da und sitzen in den Klassenzimmern. Das nennt sich „Integration“. Schön und edel dabei ist, man will niemanden ausstossen. Nichts gegen Unterstützung, Lernhilfe und Therapien für kranke Kinder. Das ist notwendig und steht hier gar nicht zur Diskussion. Die Planung geht aber in eine andere Richtung:  Der Lehrer oder die Lehrerin ist nicht mehr allein zuständig für eine Klasse, da gibt es neu nämlich eine Flut von Teilzeitlehrerinnen, die um ein Stück des Betreuungskuchens kämpfen.  Dabei wird die Verantwortung pulverisiert – eine fatale Entwicklung für unsere Schule.
Versuchen wir den Ball flach zu halten. Die Integration wurde eingeführt als Folge davon, dass sich die IV aus der Finanzierung der Therapien zurückzog. Die schöne neue Schulwelt ist kein Produkt pädagogischer Reflexion, sondern entspringt einer Sparübung. Sie wurde von den Lehrern nicht gefordert, im Gegenteil, sie wurde der Schule notfallmässig aufgezwungen.  Wie stark den Initianten und Propagandisten der „Integration“ ihr Projekt entglitten ist, zeigt nur schon die Tatsache, dass sie es nicht schaffen, ihr Konzept auf einen gültigen Namen festzulegen. Integration ist der Begriff der ersten Stunde. Eine sehr ungeschickte Wahl, denn mit Integration ist ja die Einbettung von Zugezogenen ins Alltagsleben der Schweiz gemeint. Die zweite Wortschöpfung "integrative Förderung" ist eine Notlösung, um über diese peinliche Begriffskollision hinwegzutäuschen. Doch schon heute wird immer häufiger vom Fachbegriff Inklusion gesprochen. Verwirrung total.
Jeder Kanton hat in letzter Zeit ein eigenes Reglement für die Integration von lernbehinderten oder lernschwachen Kindern erstellt. Dies geschah unabhängig von der Frage, was es überhaupt bringt, Lernbehinderte in eine Regelklasse zu integrieren. Ob die Kinder dank ihrer neuen Lernumgebung tatsächlich auch mehr lernen, ist nämlich noch gar nie untersucht worden. Richtig, die vielgepriesene „Integration“ ist letztlich ein Experiment, mit unseren Kindern als unfreiwilligen Versuchskaninchen.  Innerhalb der Kantone kommt es häufig zu Unterschieden in der praktischen Umsetzung von Gemeinde zu Gemeinde. Das Angebot steuert die Nachfrage. Integration kostet viel Geld bei zweifelhaftem Nutzen. Was daran so fortschrittlich und erstrebenswert sein soll, ist mir schleierhaft. Damit aber nicht genug: Selbst unser neugewählter EDK-Chef Christoph Eymann steht nicht mehr hinter diesem Konzept, wie er kürzlich in der NZZ am Sonntag kundtat. Mit Eymann geht ein pointierter Promotor des Systems auf Distanz und fordert die Möglichkeit, schwierige Schüler wieder in separierten Kleinklassen unterrichten zu können.
Es sieht ganz so aus, als ob das Experiment „Integration“ misslungen sei. Das finden auch Leute wie Thomas Baumann, Kinderarzt und Buchautor. Für ihn ist die integrative Förderung nicht mit unseren nach dem Leistungsprinzip aufgebauten Schulen vereinbar. Das Prinzip der Eingliederung hat in der Praxis bereits zu absurden Verschiebungen geführt. Während möglichst viele Kinder in Regelklassen integriert werden, steigt gleichzeitig auch die Zahl der Betreuungsfälle in Sonderschulen.  Im Schuljahr 2005/06, also vor der Einführung der schulischen Integration,  wurden im Kanton Bern drei Kinder mit Asperger-Syndrom unterstützt, fünf Jahre später und nach dem Aufbau eines Heeres an Therapeutinnen waren es 142! Zwischen den Jahren 2000 und 2010 ist die Zahl der Sonderschüler im Kanton Zürich um 65 Prozent gewachsen. Der Speckgürtel der Betreuung dehnt sich aus und droht, die Schulen im Therapiewahn zu ersticken. Dieses System ist unfähig geworden, sich selbst zu reformieren. Darum braucht es keine Lobhudeleien mehr, von denen haben wir schon zu viele gehört. Wir müssen innehalten und retten, was noch zu retten ist.
Urs Kalberer

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