17. Dezember 2013

"Geschwätzkultur soll keine Grundlage der Schule werden"

Einer der heftigsten Kritiker des neuen Lehrplans 21 ist Mathias Binswanger. Der Ökonom stellt sich den Fragen von Franziska Laur.



Binswanger: "Da tauchen grossartige Formulierungen auf über die sogenannte Kompetenzorientierung".


"Der Lehrplan setzt nicht mehr auf Lernen und Wissen", Basler Zeitung, 17.12. von Franziska Laur




BaZ: Herr Binswanger, was haben Sie gegen den Lehrplan 21?
Mathias Binswanger: Das Problem ist, dass damit nicht mehr der Erwerb von klassischem Schulstoff im Vordergrund steht, sondern von Kompetenzen. Da tauchen grossartige Formulierungen auf über die sogenannte Kompetenzorientierung, doch niemand weiss genau, worum es geht. Heute wird tendenziell angenommen, dass es Wissen im klassischen Sinn gar mehr braucht, da es dafür das Internet gibt. Man soll vor allem über Themen sprechen können, auch wenn man in Wirklichkeit nicht weiss, worum es geht. Diese Geschwätzkultur ist in unserer Gesellschaft schon heute verbreitet und soll jetzt auch Grundlage unserer Schulbildung werden.
Kompetenzorientierung tönt jedoch gar nicht schlecht. Schliesslich braucht jeder Mensch Kompetenzen, um zu überleben.
Natürlich, doch die Frage ist, was damit gemeint ist und und wie Kompetenzen vermittelt werden. Es ist illusorisch zu meinen, Kompetenzen wie Selbstreflexion, Eigenständigkeit, Konfliktfähigkeit oder das Vermögen, Information zu nutzen, liessen sich über einen Lehrplan verordnen und im Klassenzimmer erlernen. Realität ist vielmehr, dass man ein gewisses Wissen braucht, um wirklich kompetent zu sein, und dafür ist die Schulbildung unabdingbar. Kompetenz und Wissen sind untrennbar miteinander verbunden.
Setzt der Lehrplan 21 nicht mehr auf Lernen und Wissen?
Nein, tatsächlich nicht. Wirtschaft beispielsweise läuft unter dem Titel «Natur, Mensch, Gesellschaft». Dort wird sie im Teilbereich «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt» behandelt. Da sollen die Schüler verantwortungsbewusst Konsumentscheide fällen können. Das scheint mir ein hochtrabendes Ziel, wenn man die Funktionsweise der Wirtschaft noch gar nicht versteht. Im Religionsunterricht ist es dasselbe. Ohne die Bibel und damit die eigene Religion zu kennen, sollen Kinder «Verfremdungen religiöser Traditionen» aufschlüsseln können.
Also weg mit dem Ballast rund um die Schulen und wieder hin zur Kernaufgabe: dem Vermitteln von Stoff?
Ja, doch damit meine ich nicht, dass man wieder zurück zum monotonen Büffeln muss. Darum geht es nicht, und das wird heute im Normalfall auch nicht mehr praktiziert. Wenn man den Lehrplan 21 genauer liest, dann tauchen selbst dort heimlich immer wieder Wissensziele auf, da man auf diese einfach nicht verzichten kann. Beispielsweise kann man keine Kompetenz in Geschichte vermitteln, ohne ein paar Daten und Ereignisse zu nennen, auch wenn dies nicht unbedingt die Punischen Kriege sein müssen.
Sie haben ein Buch über sinnlose Wettbewerbe geschrieben. Sprechen Sie da auch die Schulen an?
Ja auch. Im Bildungswesen geht es darum, möglichst viele Abschlüsse zu haben oder im Pisa-Test möglichst gut abzuschneiden. So versucht die Bildungsbürokratie, die Schulen von oben zu steuern, indem man sie zwingt, bei bestimmten Kennzahlen gut abzuschneiden. Auf diese Weise glaubt man, Qualität garantieren zu können, aber erzeugt in Wirklichkeit normiertes Mittelmass. Es geht vor allem darum, Ausnahmefälle zu vermeiden und auf dem Papier gut dazustehen.
Bekommen die Lehrer zu wenig Vertrauen von den Bildungsbürokraten?
Es herrscht eine eigentliche Misstrauenskultur. Man stellt alle Lehrer unter Generalverdacht, schwarze Schafe zu sein, und sie müssen permanent beweisen, dass sie das nicht sind. Natürlich gibt es in jedem Beruf schwarze Schafe, doch typischerweise ist es nicht die Mehrheit. Vielleicht fünf Prozent. Um jetzt diese fünf Prozent zu treffen, macht man bei den 95 Prozent weissen Schafen die Motivation kaputt. Das ist vollkommen verfehlt. Wenn man einen Lehrer demotiviert, zerstört man auch die Qualität der Schule. Ein unmotivierter Lehrer ist nie ein guter Lehrer.
Sind die Lehrer unzufrieden?
Ja, das sind sie. Und es ist ihnen nicht zu verdenken. Sie haben immer weniger Zeit, um zu unterrichten, sondern müssen sich mit Bürokratie, Evaluationen und Absprachen beschäftigen. Und im Lehrplan 21 wird einmal mehr versucht, alles bis ins Detail zu regeln. Man glaubt heutzutage, man könne alles steuern. Hier hebelt sich der neue Lehrplan 21 allerdings gleich selbst aus. Er ist in seiner gegenwärtigen Form derart überfrachtet, dass er gar nicht angewendet werden kann. Doch er kann die Freude am Lehrerberuf weiter verringern.
Was wäre zu tun, um das zu korrigieren?
Man muss damit aufhören, diesen Beruf künstlich noch unattraktiver zu machen und die Lehrer von den neu geschaffenen bürokratischen Zwängen wieder befreien. Die positiven Aspekte dieses Berufs sollten wieder in den Vordergrund gerückt werden.
Gibt es diese denn überhaupt noch?
Grundsätzlich ist es ein Beruf mit vielen Freiheiten. Ausserdem kann man junge Menschen ausbilden, was ja an und für sich etwas Schönes ist. Doch damit die Lehrer wieder Freude an ihrem Beruf bekommen, muss man ihnen in erster Linie dieses verlorene Vertrauen wieder entgegenbringen. Mit dem Lehrplan 21 erreichen wir das Gegenteil. Würde ein Lehrer diesen ernst nehmen, so wäre er lediglich noch ein Vollzugsorgan, das umsetzt, was dort drinsteht. Das beste Mittel, um diesen Beruf vollends unattraktiv zu machen.
Der Lehrplan 21 hat sechs Millionen Franken gekostet und weist eine Länge von 557 Seiten auf.
Ja, das allein ist Irrsinn. Ein Lehrplan sollte kurz und präzis sein, dieser ist lang und ausufernd. Durch die Sucht, alles präzis beschreiben zu wollen, wird man ungenau. Die Autoren verrennen sich in Details, in denen niemand mehr einen Zusammenhang sehen kann. Ich sehe dahinter auch Angst, dass irgendwo ein Fehler geschehen könnte. Dann müsste man ja dafür geradestehen und könnte verantwortlich gemacht werden. Darum soll alles genau reglementiert sein.

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