21. Januar 2014

Demontage des Lehrplans 21

Das ist Dynamit in sprachlicher Form. Walter Herzog, Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Bern, zerpflückt das Konzept des Lehrplans 21 anlässlich eines Referats am Ausbildungsplenum der PH Luzern.



"Bildungspolitik in Schieflage", Bild: profi-l.info


Walter Herzog, Kompetenzorientierung - eine Kritik am Lehrplan 21, 7. 1.




Kompetenzorientierung – eine Kritik am Lehrplan 21*

Die schweizerische Bildungspolitik befindet sich in Schieflage. Es fehlen klare Konzepte, es fehlt eine klare Zielsetzung, es fehlt an politischem Konsens, es fehlt auch an fachlicher Kompetenz, und es fehlt vor allem eine klare Begründung für die vielen Reformen, die laufen und laufend neu initiiert werden. Der Lehrplan 21 ist das jüngste Beispiel für ein unzureichend legitimiertes Reformprojekt, dessen Scheitern absehbar ist. Ich kann nicht alle Kritikpunkte anführen, die sich gegen den Lehrplan 21 vorbringen lassen; dafür ist die Zeit zu knapp. Ich konzentriere mich jedoch auf die wichtigsten Punkte.
Als Erstes stellt sich die Frage, ob das, was uns vorliegt, überhaupt ein Lehrplan ist. Im Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), einem der neueren pädagogischen Wörterbücher, kann man lesen, dass unter einem Lehrplan im weiten Sinn ein «Kanon von Lehrinhalten» verstanden wird, «die in eine Abfolge gebracht und zumeist nach Fächern strukturiert sind» (KLE, Bd. 2, S. 294). Dies – so heisst es weiter – impliziere «immer normative Vorstellungen von Zielen institutionalisierten Lehrens und Lernens» (ebd.). Das ist relativ allgemein formuliert: Es geht um institutionalisiertes Lehren und Lernen, d.h. um Schule, es geht um Inhalte («Lehrinhalte»), und es geht darum, dass die Inhalte in eine Abfolge gebracht und normativ festgelegt werden. Es geht aber auch – und das kommt in dem Zitat etwas zu wenig zum Ausdruck – um den Zweck von Schule und Unterricht. Wozu sollen die Inhalte ausgewählt und normativ für verbindlich erklärt werden? Und durch wen soll dies geschehen?
Sobald es um normative Festlegungen geht, ist die Wissenschaft nicht die richtige
Adresse. Der Zweck der Schule und deren curriculare Ziele sind in einer demokratischen Gesellschaft von den Bürgerinnen und Bürgern in einer öffentlichen Auseinandersetzung festzulegen. Damit bin ich bei meinem ersten Kritikpunkt. Dieser Diskurs über Sinn und Zweck unserer Schule hat nicht stattgefunden. Eine Vernehmlassung, wie sie eben abgeschlossen wurde, bildet jedenfalls kein Instrument der demokratischen Konsensfindung, sondern stellt lediglich eine Form der politischen Konsultation dar. Das aber heisst, dass dem Lehrplan 21 die politische Legitimation (bisher) fehlt. Es ist ein behördlich in die Welt gesetztes Dokument und nicht mehr.
Kritik Nr. 1: Dem Lehrplan 21 fehlt die politische Legitimation.
Insofern die Entscheidungsfindung über einen Lehrplan für eine öffentliche Schule einen politischen Diskurs voraussetzt, muss ein Lehrplan auch so formuliert sein, dass er diesen Diskurs ermöglicht. Das heisst unter anderem, dass er von den Bürgerinnen und Bürgern auch verstanden werden muss und dass er einen Umfang aufweist, der eine öffentliche Auseinandersetzung überhaupt möglich macht. Beide Voraussetzungen werden vom Lehrplan 21 verletzt. Dies will ich jedoch nicht weiter kommentieren, denn gravierender scheint mir zu sein, dass auch eine dritte Voraussetzung eines Lehrplans verletzt wird: Weil ein Lehrplan in einem öffentlichen Diskurs zu beschliessen ist, stellt er ein bildungspolitisches und kein pädagogisches Dokument dar. Damit bin ich bei meinem
zweiten Kritikpunkt:
Kritik Nr. 2: Der Lehrplan 21 vermischt die Zuständigkeiten und schliesst die Aufgabe
der Bildungspolitik mit dem Auftrag der Lehrerprofession kurz.
Aufgabe der Bildungspolitik wäre es, die Richtung vorzugeben, einen Rahmen zu setzen und für Bedingungen zu sorgen, damit die Richtungsvorgabe innerhalb des gesetzten Rahmens optimal realisiert werden kann. Ein Lehrplan muss daher relativ offen formuliert sein (als «Rahmenlehrplan»); auf keinen Fall soll er im Detail festlegen, was in der Schule und im Unterricht zu tun oder zu erreichen ist.
Davon ist der Lehrplan 21 weit entfernt. Weder gibt er eine Richtung vor noch setzt er
einen Rahmen; vielmehr mischt er sich in die inneren Angelegenheiten von Schule und Unterricht ein. Ausdrücklich heisst es in den Rahmeninformationen zur Konsultation des Lehrplans 21, dieser diene «in erster Linie [!] der Unterrichtsplanung und der Unterrichtssteuerung» (S. 16). Das muss man zwei Mal lesen, bevor man es richtig verstanden hat. Der Lehrplan, der ein politisches Instrument ist, übernimmt didaktische Funktionen! Das heisst nichts anderes, als dass die Politik mit dem Lehrplan 21 bis auf die Unterrichtsebene durchsteuern will – etwas, was es bisher hierzulande nicht gegeben hat! Die Folge wird eine Entmündigung der Lehrpersonen und eine Deprofessionalisierung des Lehrerberufs sein. Es ist kein Geheimnis, dass der Lehrplan 21 mit dem HarmoS-Projekt liiert ist. Die Liaison zeigt sich insbesondere daran, dass der Lehrplan 21 an Bildungsstandards und Kompetenzen ausgerichtet ist. In den offiziellen Dokumenten zum Lehrplan 21 ist es vor allem die Kompetenzorientierung, die als neu ausgegeben wird. Im Grundlagenpapier zum Lehrplan 21 (2010) heisst es apodiktisch: «Moderne Bildungssysteme und neue Lehrpläne orientieren sich an Kompetenzen» (S. 14). Was aber sind «Kompetenzen»? Was heisst «Kompetenzorientierung»? Hier kommt mein dritter Kritikpunkt:
Kritik Nr. 3: Es ist ziemlich unklar, was im Lehrplan 21 unter Kompetenz und Kompetenzorientierung verstanden wird.
In der Einleitung zum Lehrplan 21 heisst es, Lehrpläne hätten bisher beschrieben, welche Inhalte Lehrpersonen unterrichten sollen. In der Tat, dies ist eine zentrale Aussage des Zitats aus dem KLE: ein Lehrplan ist ein «Kanon von Lehrinhalten». Das gilt für den Lehrplan 21 offenbar nicht. Dieser beschreibt nämlich – so heisst es weiter in der Einleitung zum Lehrplan 21 – «was Schülerinnen und Schüler am Ende von Unterrichtszyklen können sollen» (ebd., S. 4 – Hervorh. W.H.). Wenn man dies beim Wort nehmen darf, dann geht es im Lehrplan 21 nicht um einen Kanon von Inhalten, der von den Lehrkräften zu vermitteln ist, sondern um ein Können, über das sich die Schülerinnen und Schüler am Ende der Schule ausweisen müssen.
Dass dies keine falsche Vermutung ist, zeigt der Lehrplan selber, der ganz in der Sprache des Könnens abgefasst ist. Seite über Seite liest man: «Die Schülerinnen und Schüler können ...». Nur selten findet man ein anderes Verb – wie «verfügen», «kennen», «zeigen» oder «sind bereit». Einer Litanei gleich wird ein Können nach dem anderen heruntergebetet, bis man zu guter Letzt beim Können Nr. 4753 angelangt ist. Ist dies mit Kompetenzorientierung gemeint? Ist eine Kompetenz einfach etwas, was man kann? Das will man nicht so recht glauben, denn in der Schule ist es doch schon immer auch darum gegangen, dass die Schülerinnen und Schüler etwas können – dass sie eine Aufgabe lösen können, eine Frage beantworten können, eine Formel anwenden können, eine Situation bewältigen können etc. Die elementaren Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens stellen genauso ein Können dar wie vieles, was im Sportunterricht, im Musikunterricht oder in den gestalterischen Fächern gelernt wird. Auch Praktika im Naturwissenschaftsunterricht sind schon seit jeher auf ein Können ausgerichtet; von den Fremdsprachen ganz zu schweigen. Wenn es im Glossar zum Lehrplan 21 daher heisst, der Erwerb einer Kompetenz zeige sich «in der Art und Weise der erfolgreichen Bewältigung einer Aufgabe», dann sind Kompetenzen entweder nichts
Neues für die Schule oder wir haben noch nicht verstanden, was eine Kompetenz ist.
Denn auch eine Aufgabe der reinen Mathematik oder der theoretischen Physik lässt sich «erfolgreich bewältigen», ohne dass wir dafür den Kompetenzbegriff bemühen würden. Weiterhelfen kann uns daher eine Bemerkung in den Rahmeninformationen zur Konsultation des Lehrplans 21. Hier heisst es, neu am Lehrplan 21 sei, dass beschrieben werde, «was alle Schülerinnen und Schüler wissen und können müssen» (S. 9). Nun taucht über das Können hinaus auch das Wissen auf. Bei Kompetenzen ginge es demnach um «Wissen und Können». Das wäre aber genauso nichtssagend wie das Können allein. Denn schon immer hat ein Lehrplan umschrieben, was Schülerinnen und Schüler «wissen und können» müssen. Es gehört zur speziellen Prosa von Lehrplänen, dass sie im Indikativ festhalten, was Kinder und Jugendliche nach Abschluss der Schule wissen oder können. Im Englischen ist zumeist von knowledge and skills die Rede, und zwar auch bei PISA und auch im Kontext der Standardbewegung (vgl. Herzog 2013). Allerdings scheint im Lehrplan 21 nicht ein Entweder-oder gemeint zu sein – entweder Wissen oder Können –, sondern ein Sowohl-als-auch – sowohl Wissen als auch Können.
Zumindest an einer Stelle – wiederum in der Einleitung zum Lehrplan 21 – wird
genau so formuliert. In der Beschreibung von Lernzielen in Form von Kompetenzerwartungen werden «Wissen und Können ... miteinander verknüpft» (S. 4). Dies ist zwar eine singuläre Stelle, wäre aber aus meiner Sicht ein sinnvoller und zugleich einfacher Ansatz, um den Kompetenzbegriff zu definieren. Eine Kompetenz wäre demnach nicht in erster Linie ein Können, sondern ein Wissen, aber ein Wissen, das mit einem Können verbunden ist. Das scheint aber nicht wirklich die Meinung des Lehrplans 21 zu sein. Es geht nämlich nicht einfach um eine Zuordnung von Wissen und Können, sondern um die Unterordnung des einen unter das andere. Man braucht sich nicht viele der über 4'000 Kompetenzen vor Augen zu führen und wird schnell feststellen, dass von Inhalten kaum die Rede ist. Wissen ist nur zugelassen, falls es sich einem Können nachordnen lässt. So liest man – nochmals in der Einleitung zum Lehrplan 21 –, Kompetenzorientierung heisse, die «Stoffe und Inhalte» seien «so auszuwählen …, dass … Kompetenzen daran [!] erworben oder gefestigt werden können» (S. 6). Und, kurz zuvor: «In der Beschreibung von Lernzielen in Form von Kompetenzerwartungen sind Inhalte direkt [!] mit daran [!] zu erwerbenden … Fähigkeiten und Fertigkeiten verbunden; Wissen und Können
… werden miteinander verknüpft» (S. 4). Wissen ist also nur gefragt, sofern es
erlaubt, eine formale Kompetenz zu schulen! Aber ist dies sinnvoll? Oder überhaupt möglich? Meine Antwort ist ein klares Nein. Deshalb mein vierter Kritikpunkt:
Kritik Nr. 4: Es ist weder sinnvoll noch möglich, schulisches Wissen so zu präparieren, dass es immer einem Können untergeordnet ist.
Auch wenn einiges dafür spricht, dass dies – ein Können, dem ein Wissen subsumiert wird – der Kompetenzbegriff ist, der dem Lehrplan 21 zugrunde liegt, können wir uns dessen nicht gewiss sein. Denn wenn man sich im Lehrplan 21 noch etwas weiter umsieht, stösst man auf eine nochmals andere Festlegung des Kompetenzbegriffs. Wiederum in der Einleitung zum Lehrplan 21 heisst es, die Orientierung an Kompetenzen basiere «u.a. auf den Ausführungen von Franz E. Weinert» (S. 4). Danach weisen Kompetenzen mehrere inhalts- und prozessbezogene Facetten auf: «Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen, aber auch Bereitschaften, Haltungen und Einstellungen» (ebd.). Im Glossar heisst es unter «Kompetenz» sogar ohne jede Einschränkung, der Lehrplan 21 stütze sich «auf diesen Kompetenzbegriff», also denjenigen von Weinert. Damit ist es mit der gewonnenen Klarheit bereits wieder dahin. Zwar nennt der Lehrplan 21 keine Quelle, jedoch ist offensichtlich, dass man sich auf die Klieme-Expertise stützt, in der die Definition Weinerts gleich zwei Mal aufgeführt wird. Demnach sind Kompetenzen «die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll
nutzen zu können» (Weinert, zit. nach Klieme et al. 2003, S. 21 und 72). Wer kompetent ist, kann folglich nicht nur etwas, sein Können wird auch nicht nur durch
ein Wissen gestützt, sondern was er kann und weiss ist in seiner Persönlichkeit verankert. Deshalb ist er motiviert und gewillt, seine Kompetenzen in der richtigen Einstellung und verantwortungsvoll in variablen Lebenssituationen zur Lösung vielfältiger Probleme zu nutzen. Mit dieser Definition sind jedoch verschiedene Probleme verbunden, die zu weiterer Kritik Anlass geben. Erstens fehlt ihr eine theoretische Grundlage. Weinert lässt keinen Zweifel aufkommen, dass seine Definition, die er ursprünglich für ein OECD-Symposium ausgearbeitet hat, rein pragmatisch begründet ist. Im Originaltext Weinerts, der weder in der Klieme-Expertise noch im Lehrplan 21 zitiert wird, spricht er von Kriterien einer pragmatischen Definition des Kompetenzbegriffs, deren Erörterung eher praktischen als theoretischen Nutzen habe (vgl. Weinert 2001, S. 63). Damit sind wir bei meinem fünften Kritikpunkt:
Kritik Nr. 5: Dem Lehrplan 21 fehlt eine theoretische Grundlage.
Zweitens führt die Ausweitung des Kompetenzbegriffs in den Bereich der Persönlichkeit dazu, dass der Schule in einem bisher unbekannten Ausmass erzieherische Kompetenzen übertragen werden. Tatsächlich ist die Vielzahl von erzieherischen Kompetenzen, die man im Lehrplan 21 findet – und dies nicht etwa nur bei den überfachlichen Kompetenzen – die direkte Folge der motivationalen, volitionalen und sozialen Aspekte des weinertschen Kompetenzbegriffs.
Ist es aber eine legitime Aufgabe der Schule, in die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler einzugreifen und wahllos Dispositionen nicht-kognitiver Art auszubilden? Ich würde mit Bestimmtheit sagen: nein, dies ist keine Aufgabe der Schule und kann nicht ihre Aufgabe sein. Damit ergibt sich als sechster Kritikpunkt:
Kritik Nr. 6: Der Lehrplan 21 weitet den Erziehungsauftrag der Schule unbegründet und unverhältnismässig aus.
Drittens verführt Weinerts Kompetenzbegriff aufgrund seiner Theorielosigkeit zur irrtümlichen Annahme, bei Kompetenzen würde es sich um etwas Anschauliches handeln. In den Rahmeninformationen zur Konsultation des Lehrplans heisst es, der Lehrplan 21 würde die von den Schülerinnen und Schülern zu erwerbenden Kompetenzen «transparent, verständlich und nachvollziehbar» (S. 12) darstellen. «Aus diesem Grund» [!] würden die Ziele im Lehrplan 21 «in Form von Kompetenzen beschrieben» (ebd.). (Nebenbei gesagt: Von ‹Beschreibung› und ‹beschreiben› ist im Lehrplan 21 auffällig häufig die Rede.) Die Sprache ist verräterisch, denn sie führt auf direktem Weg zum HarmoS-Projekt. Schon dort – im sogenannten HarmoS-Weissbuch – heisst es in Bezug auf die Kompetenzen, die durch Bildungsstandards reguliert werden sollen: Durch «präzise Beschreibungen [!], die sich auf erwartete Leistungen ... beziehen» (EDK 2004, S. 4), werde es möglich sein, «genau festzulegen, welches Kompetenzniveau zu einem bestimmten Zeitpunkt der obligatorischen Schule ... erwartet wird» (ebd., S. 1). Von den Kompetenzmodellen wird gar beansprucht, diese würden die «Abstufungen und Entwicklungsverläufe
von Kompetenzen sichtbar [machen]»(ebd., S. 9 – im Original hervorgehoben).
Das ist nicht nur reichlich übertrieben, sondern schlicht falsch. Kompetenzen kann man weder sehen noch beschreiben, einfach deshalb nicht, weil sie keine empirischen Phänomene, sondern hypothetische (theoretische) Konstrukte sind. Was immer Kompetenzen überhaupt sein mögen, sie stehen für Dispositionen, die sich zwar im Verhalten der Schülerinnen und Schüler zeigen, begrifflich aber nicht mit Verhaltensweisen identisch sind. Kompetenzen sind nichts, was sich in der Anschauung vorfinden und in Form einer phänomenalen Beschreibung darstellen lässt. Das ergibt meinen siebten Kritikpunkt:
Kritik Nr. 7: Der Lehrplan 21 will uns weismachen, Kompetenzen seien etwas Anschauliches und liessen sich direkt beschreiben.
Die Fülle an Kompetenzen, welche der Lehrplan 21 anhäuft, kann folglich nicht damit
begründet werden, dass es darum geht, «transparent, verständlich und nachvollziehbar » zu machen, worum es an unserer Schule geht. Es geht um etwas ganz anderes. Der Lehrplan 21 steht in einem Kontext von Schulreform, der sich mit dem Begriff der Standardbewegung belegen lässt. Ein Kernstück der Standardbewegung ist der Anspruch, das Bildungssystem über die Beobachtung seines Outputs zu steuern. Das impliziert, dass der Output gemessen wird, und zwar auf einem metrischen Niveau, das die Schulen selber nicht erreichen, weil die Notenskala keine metrische Skala bildet. Es braucht daher Tests sowie Expertinnen und Experten, welche diese entwickeln, einsetzen und auswerten. Um Tests entwickeln zu können, bedarf es jedoch der detaillierten und präzisen Umschreibung dessen, was die Schülerinnen und Schüler lernen sollen. Diese Beschreibungen (jetzt handelt es sich um Beschreibungen!) müssen auf der Verhaltensebene, d.h auf der Ebene der Performanz, liegen. Vergessen wir nicht, dass Bildungsstandards im HarmoS-Projekt ausschliesslich Leistungsstandards sind. Im Englischen heissen sie performance standards und nicht etwa competence standards. Damit bin ich bei meinem achten Kritikpunkt:
Kritik Nr. 8: Es geht dem Lehrplan 21 gar nicht um Kompetenz, sondern um Performanz.
Es geht darum zu messen, wozu die Schülerinnen und Schüler fähig sind, und das kann man nur auf der Ebene der Performanz, d.h. auf der Ebene manifester Leistungen, die sich im Verhalten der Schülerinnen und Schüler zeigen. Deshalb die Überfülle an sogenannten Kompetenzen im Lehrplan 21! (Wobei hier ein altbekanntes Problem auftaucht: Trotz Überfülle an Kann-Formulierungen ist der Lehrplan 21 noch viel zu ungenau, als dass sich allein auf seiner Basis Tests entwickeln liessen.) Die Folgen sind eine Übersteuerung der Schule und eine Deprofessionalisierung des Lehrerberufs. Dies ist mein letzter Kritikpunkt:
Kritik Nr. 9: Der Lehrplan 21 führt zur Übersteuerung des Bildungssystems und zur
Deprofessionalisierung des Lehrerberufs.
Eine Übersteuerung deshalb, weil nicht nur über die Bildungsstandards (den Output),
sondern nun auch über den Lehrplan (den Input) gesteuert wird. Eigentlich würden
Bildungsstandards einen schlanken Lehrplan ermöglichen. Ganz einfach deshalb, weil eine Steuerung über den Output die Inputsteuerung zurücknehmen liesse. So hätte es die Klieme-Expertise auch vorgesehen. Postuliert werden sogenannte Kerncurricula (vgl. Klieme et al. 2003, S. 94), welche die traditionelle «Lehrplansteuerung» (ebd., S. 91) ersetzen. Doch was uns die EDK beschert, ist das pure Gegenteil: die Lehrplansteuerung wird nicht zurückgenommen, sondern massiv ausgebaut. Input und Output der Schule werden gleichermassen gesteuert. Was uns noch fehlt, ist die Prozesssteuerung (aber dafür werden in Bälde die auf den Lehrplan 21 abgestimmten Lehrmittel sorgen). Eine Deprofessionalisierung des Lehrerberufs deshalb, weil die Überprüfung der Kompetenzen, da sie ein metrisches Skalenniveau voraussetzt, nicht von den Lehrkräften selber vorgenommen werden kann, sondern an Expertinnen und Experten delegiert werden muss. Damit schliesst sich der Kreis. Es waren Expertinnen und Experten, die den Lehrplan 21
in stiller Arbeit ausgearbeitet haben, und es werden Expertinnen und Experten sein, die dessen Umsetzung überwachen und kontrollieren werden. Die Idee eines öffentlichen Schulwesens, das von den Bürgerinnen und Bürgern gewollt ist und demokratisch kontrolliert wird, scheint uns genauso abhanden zu kommen wie das Bild eines Lehrerberufs, der nur professionell ausgeübt werden kann, wenn er nicht nach politischem Belieben an die Kandare genommen wird.

Literaturverzeichnis
EDK (2004). HarmoS. Zielsetzungen und Konzeption. Weissbuch. Bern: EDK.
Geschäftsstelle der deutschsprachigen EDK-Regionen (2010). Grundlagen für den
Lehrplan 21, verabschiedet von der Plenarversammlung der deutschsprachigen EDKRegionen
am 18. März 2010. Luzern. Download:
http://www.lehrplan.ch/sites/default/files/Grundlagenbericht.pdf [30.12.2013].
Herzog, W. (2013). Bildungsstandards – eine kritische Einführung. Stuttgart: Kohlhammer.
10
Horn, K.-P., Kemnitz, H., Marotzki, W. & Sandfuchs, U. (Hrsg.) (2012). Klinkhardt
Lexikon Erziehungswissenschaft, 3 Bde. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Klieme, E., Avenarius, H., Blum, W., Döbrich, P., Gruber, H., Prenzel, M., Reiss, K.,
Riquarts, K., Rost, J., Tenorth, H.-E. & Vollmer, H. J. (2003). Zur Entwicklung nationaler
Bildungsstandards. Eine Expertise. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Lehrplan 21: Download: http://konsultation.lehrplan.ch/
Weinert, F. E. (2001). Concept of Competence: A Conceptual Clarification. In D. S.
Rychen & L. H. Salganik (Hrsg.), Defining and Selecting Key Competences (S. 45-65).
Seattle: Hogrefe & Huber.

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