10. Januar 2014

Kompetenzen, Ideologie und Fremdsprachen als Stolpersteine für den Lehrplan 21

Michael Schoenenberger lässt in seiner Analyse des Lehrplans 21 noch einmal die Problemfelder Revue passieren: Kompetenzorientierung, Ideologie und die Fremdsprachenfrage. Er macht deutlich, dass hier noch einmal gründlich über die Bücher gegangen werden muss. Zur Entschärfung des Konflikts um die Kompetenzorientierung schlägt Schoenenberger einen zweiteiligen Lehrplan vor: Ein Teil widmet sich dem Erwerb von Wissen, ein zweiter würde darauf aufbauende Kompetenzen formulieren.
Gründlich über die Bücher, NZZ, 10.1. von Michael Schoenenberger


Es klingt abgedroschen, aber es ist so: Kinder und Jugendliche sind die Zukunft eines Landes. Deshalb kommt ihrer obligatorischen Schulbildung enorme Bedeutung zu. Die Schule muss Kinder und Jugendliche auf die Zukunft vorbereiten. Schule muss also vorwärtsgehen. Sie darf nicht stehenbleiben. Konservative Reflexe sind ein schlechter Ratgeber, auch bei der Erarbeitung eines neuen Lehrplans. Die Schule von einst, die womöglich weniger gut war, als sie in der zur Verklärung neigenden Erinnerung aufscheint, muss nicht die gute Schule von morgen sein. Bringt nun aber der Lehrplan 21 diese geforderte Zukunftsfähigkeit? Zweifel sind angebracht.

Das Zauberwort «Kompetenz»

Die Ziele des Unterrichts sind im Lehrplan 21 in Kompetenzen umschrieben. In den Bildungswissenschaften sind sie umstritten. Eine klare Definition fehlt. Die Schweizer Lehrplanmacher sagen, was sie meinen: Ins Zentrum stellen sie das Können und die Anwendung von Wissen. Die Unterrichtsziele sind nicht erreicht, wenn der Stoff des Lehrplans behandelt worden ist, sondern erst, wenn dieses Wissen auch verstanden ist und angewendet werden kann. Letztlich ist mit Kompetenz, so lässt sich erahnen, wohl Bildung im klassischen Sinn, in all ihren Ausgestaltungen, gemeint: Schule soll umfassend bilden und sich nicht auf plumpe Stoffvermittlung beschränken.
Dagegen lässt sich nichts einwenden. Doch in der Kompetenzeuphorie ging der Wert der puren und umfassenden Wissensaggregation vergessen. Ein Beispiel, das auch der Präsident des Lehrerverbands, Beat W. Zemp, erwähnt hat: Der Lehrplan 21 schreibt nicht vor, dass die Französische Revolution behandelt werden muss. Die Schüler müssen aber verstehen, wie es zu Revolutionen kommt und was deren Folgen sind. Mit der gleichen Argumentation liessen sich die beiden Weltkriege – monumentale Ereignisse des 20. Jahrhunderts – aus dem Schulstoff verbannen. Müssen Schüler wirklich wissen, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 begann und wer der Angreifer war? Wichtig wäre aus Kompetenzsicht ja, dass Schüler Entstehung, Beendigung und Folgen von Kriegen erklären können. Möglicherweise würde eine Lehrperson das Beispiel des Zweiten Weltkriegs zur Hand nehmen, um dies zu erklären. Vielleicht auch nicht. Nicht ausgeschlossen also, dass Schüler die obligatorische Schule verlassen, ohne je von der Französischen Revolution oder den Weltkriegen gehört zu haben. Das ist undenkbar und unhaltbar.
Wir leben in der Epoche des Internets. Wissen ist auf Tastendruck verfügbar. Doch welches Wissen ist das? Und werden Schüler, die nicht wirklich an der Vermehrung ihres Wissens interessiert sind, es später – oder wenn sie es brauchen – im Internet suchen? Werden sie nicht viel eher in Unwissenheit verharren? Wissen ist Macht, hiess es früher. Ist Macht heute gleichzusetzen mit der Beherrschung von Computertasten? Die Schule hat den zentralen Auftrag der Wissensvermittlung, und der Lehrplan 21 ist diesbezüglich zu korrigieren. Ein Ausweg böte sich an: Der Plan ist in zwei Teile zu gliedern. Der erste Teil würde in der Tradition der Wissensorientierung stehen und klare inhaltliche Lernziele umschreiben, der zweite würde darauf aufbauende Kompetenzen formulieren.
Dies entschärfte zwei weitere Problematiken. Für die Unterrichtspraxis nämlich kommt die Kompetenzorientierung einem Paradigmenwechsel gleich. Derzeit, man denke an die zahlreichen Sparprogramme in den Kantonen, ist ganz und gar offen, wie die Lehrkräfte überhaupt in diese neue Art des Unterrichts eingeführt werden. Es scheint, dass die Mittel dazu gänzlich fehlen. Soll der Lehrplan 21 zur Reform ohne Fundament werden? Sodann zweitens: Kompetenzen zu bewerten und zu benoten, ist schwierig; manche behaupten, es sei unmöglich. Die Notengebung jedenfalls wird ohne eindeutige Lernziele kniffliger und vor allem angreifbarer. Nach den Gesetzen menschlichen Verhaltens wird dies dazu führen, dass Lehrkräfte ihre Noten tendenziell «einmitten». Die sehr guten Schüler bekommen weniger schnell eine 6, die weniger begabten eher eine 4. Die Kompetenzorientierung wird den Mut schmälern, schlechte oder sehr gute Noten auszuteilen. So resultierte nicht eine bessere Schule, aber am Leistungsprinzip würde geritzt. Jene, die aus ökonomischen Überlegungen die Kompetenzorientierung befürworten, könnten enttäuscht werden.
Zur Umsetzung des Lehrplans 21 in der Praxis braucht es vor allem zwei Dinge. Er muss politisch akzeptiert sein und von den Lehrkräften getragen und umgesetzt werden können. Beides ist heute nicht der Fall. Dieser Plan ist zu umfangreich und alles andere als jenes handliche Instrument, das versprochen worden ist. Zudem ist er in seiner Detailversessenheit im Prinzip eine Anleitung zum Unterricht, was die Freiheit der Lehrkräfte tangieren wird. Da erfolgreicher Unterricht vor allem von der Motivation der Lehrkräfte abhängt, ist dieser Punkt sehr wichtig. Der Lehrplan 21 wird zudem notgedrungen weitere Harmonisierungen nach sich ziehen, etwa der Stundentafeln. Es ist klar, dass er – zu Ende gedacht – die kantonale Schulautonomie nicht gerade aushebeln, aber zumindest infrage stellen wird.

Zu ideologisch

Mit dem Lehrplan 21 liegt ein Dokument vor, das streckenweise ideologische Züge trägt. Links-grüne Geistes- und Werthaltungen sowie Umerziehungsphantasien finden teilweise Eingang. Dafür fehlt ganz Grundlegendes, gerade im vieldiskutierten Kapitel «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt». Wenn der Lehrplan 21 in private Bereiche eindringt und plötzlich «Kompetenzen» zu beurteilen sind, die die Schule gar nichts angehen, wird deren Erziehungsauftrag überstrapaziert. So geht es nicht, und so wird dieser Lehrplan kaum jene politische Akzeptanz erstreiten, die er braucht. Wird er in dieser Form und mit diesen problematischen Inhalten an den obligatorischen Schulen der Deutschschweiz zur Pflicht, dann ist die Frage nach der freien Schulwahl wieder neu zu stellen. Eltern sollen dann die Möglichkeit haben, Schulen zu wählen, in denen andere Weltanschauungen zum Zuge kommen.
Schliesslich zur Harmonisierung. Ja, es ist Auftrag der Bundesverfassung an die Kantone, deren Schulwesen zu harmonisieren – auch inhaltlich, also mit einem Lehrplan. Wird das im Jahr 2014, acht Jahre nach dem wuchtigen Volks-Ja zur Bildungsverfassung, geleistet? Die Antwort lautet Jein. Vieles ist zwar erreicht worden, vor allem im strukturellen Bereich, wofür den Verantwortlichen in der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren auch Anerkennung zu zollen ist. Die Stimmbürger legten damals ein Ja in die Urne, weil sie mit einer Vereinheitlichung der Grundanforderungen der Volksschule die Mobilität von Schülern und Lehrkräften erleichtern und Klarheit bei Übertritten in nächste Bildungsstufen schaffen wollten. Noch immer wird indes über die Fremdsprachenabfolge gestritten, deren unterschiedliche Ausgestaltung wohl eine der höchsten Mobilitätshürden für ein Kind darstellt. Es gilt, diese Frage prioritär zu behandeln. Beim Lehrplan 21 drängt die Zeit nicht. Angezeigt ist, bei ihm noch einmal gründlich über die Bücher zu gehen.



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