13. Januar 2014

Steiner-Schulen wieder im Trend

Theaterspielen statt Büffeln nach Lehrplan: Steiner-Schulen haftet der Ruf an, Kinder fernab von Leistungsdruck in einer weltfremden Idylle gross werden zu lassen. Doch Eltern und Ehemalige berichten auch von einengenden Wertvorstellungen.
Runen schnitzen statt Schulstoff pauken, NZZ, 13.1. von Sibilla Bondolfi


Nicht nur musische Fächer wie Musik, Kunst und Theater haben an Rudolf-Steiner-Schulen einen hohen Stellenwert, auch der praktische, erlebnisorientierte Unterricht ist fester Bestandteil des Schulprogramms. Ob Feldvermessungslager, Meeresbiologiepraktikum auf einer französischen Atlantikinsel oder ein Steinhau-Projekt in der Toskana: An Steiner-Schulen lernen Schüler, wie es sich anfühlt, mit beiden Händen anzupacken.
Explodierende Schülerzahlen
Angesichts der zunehmenden Praxisentfernung im staatlichen Bildungswesen erstaunt es nicht, dass die Steiner-Schulen mit dem an Pestalozzi angelehnten Lernkonzept «Kopf, Herz und Hand» wieder grossen Zulauf haben: Seit 2009 sind die Schülerzahlen an den Steiner-Schulen Adliswil, Winterthur und Zürich um 40 Prozent gestiegen. Nicht zuletzt die neu geschaffenen Abschlussmöglichkeiten an einigen Steiner-Schulen - Fachmatur sowie gymnasiale Matur - mögen zum Schülerboom beigetragen haben.
Mit einkommensabhängigen Familienbeiträgen zwischen 500 und 3000 Franken monatlich sind Steiner-Schulen zudem relativ günstige Privatschulen - vor allem für kinderreiche Familien. Die bescheidenen Preise sind möglich, weil sich die Schulen zu einem guten Teil durch Spenden finanzieren.
Steiner-Schulen sind allerdings nicht bloss erlebnis-, gestaltungs- und praxisorientierte Schulen. Sie zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie auf der anthroposophischen Pädagogik nach Rudolf Steiner (1861-1925) basieren. Die Anthroposophie ist in den letzten Jahren allerdings unter Beschuss geraten - unter anderem wegen Rassismusvorwürfen und sektiererischem Gebaren. Die Anthroposophie umfasst viele Lebensbereiche: Von der anthroposophischen Medizin über die biologisch-dynamische Landwirtschaft bis hin zur anthroposophischen Ernährungslehre befolgen die Anhänger Rudolf Steiners seine zum Teil umstrittenen Lehren.
Die Steiner-Schulen erwarten zwar offiziell nicht, dass die Eltern ihrer Schüler zu Anthroposophen werden. Doch besucht ein Kind die Steiner-Schule, kann das durchaus grössere Auswirkungen auf das Privatleben einer Familie haben als der Besuch einer staatlichen Schule. So wird von Eltern zum Beispiel erwartet, dass sie beim Schulhausputz mithelfen. Kindergärtnerinnen und Lehrerpersonal führen zudem Hausbesuche bei den Familien durch. Dabei müssen sich Eltern auch kritische Fragen gefallen lassen. «Bei Familienbesuchen werden der Umgang mit elektronischen Medien und der TV-Konsum thematisiert», sagt Cornelius Bohlen von der Schulleitung der Atelierschule Zürich.
Geht diese Einmischung in den Familienalltag nicht etwas gar weit? Bohlen relativiert: «Die Skepsis in der Waldorf-Bewegung gegenüber Geräten wie Handy, Computer und TV darf man nicht verwechseln mit einem generellen Verbot.» Auch von einem Fussballverbot oder von Kleidervorschriften will Bohlen nichts wissen. Vielmehr stuft er entsprechende Fragen der Journalistin als Klischees ein, die aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammten.
Die verschwundenen Stiefel
Wirklich nur Klischees? Ein Artikel der Eurythmistin und Steiner-Schul-Lehrerin Bettina Mehrtens in der Zeitschrift «Schulkreis» der Rudolf-Steiner-Schulen relativiert dieses Bild. Sie begegne auch heute noch antipathischen Reaktionen bei Kolleginnen, wenn zum Beispiel Kinder mit bedruckten Kleidungsstücken im Unterricht erschienen, beide Eltern berufstätig seien oder der Konsum von elektronischen Medien zum Familienalltag gehöre.
Mehrtens bestätigt damit auch Schilderungen von Eltern ehemaliger Schüler verschiedener Rudolf-Steiner-Schulen, die von kuriosen Einmischungen einzelner Lehrpersonen berichten. So erzählt eine Mutter, sie habe ihrem Sohn Gummistiefel mit einem «Capt'n Sharky»-Logo gekauft, da er sich diese sehr gewünscht habe. «Mein Vater hat meinen Sohn vom Kindergarten abgeholt und mir später erzählt, er habe ihn barfuss mitnehmen müssen, die Stiefel seien nirgends auffindbar gewesen.» Am nächsten Morgen sei ihr von der Kindergärtnerin und der Tagesbetreuerin mit ernster Miene angekündigt worden, es müsse ein Elterngespräch geben. «Von zwei Seiten wurde mir dann gepredigt, dass der Aufdruck satanisch-diabolisch sei und man sich fragen müsse, ob meine Kinder ein schadhaftes Umfeld hätten.»
Eine andere Mutter erzählt, wie sie ihrem Sohn erlaubte, in einem Fussballclub zu spielen, was ebenfalls ein Elterngespräch zur Folge hatte. «Es hiess, mein Sohn spiele mit Mutter Erde», erzählt sie. Eine andere Mutter berichtet, ihr Sohn habe Schlagzeug spielen wollen, doch von Lehrerseite sei ihr die Leier ans Herz gelegt worden, um den Sohn «geistig auszugleichen». Einer weiteren Mutter ist nach eigenen Angaben vom Turmspringen als Hobby für die Tochter abgeraten worden, weil dieses gegen den heileurythmischen Bewegungsablauf verstosse.
In Einzelfällen haben sich Betroffene gar an eine Sekten-Beratungsstelle gewandt: «Einige Ehemalige, die sich an Infosekta gewandt haben, berichteten von psychischer Belästigung und einem engen, rigiden Schulklima», sagt Susanne Schaaf von Infosekta, der Fachstelle für Sektenfragen. «Wenn die Herkunftsfamilie sich ebenfalls in einem anthroposophischen Milieu bewegte, war es für die Betroffenen sehr schwierig, sich zu lösen», so Schaaf. In einzelnen Fällen sei sogar eine therapeutische Begleitung nötig gewesen.
Der Lehrer im Zentrum
Eine Besonderheit der Rudolf-Steiner-Schulen ist die zentrale Rolle des Klassenlehrers. Kinder werden in der Regel von der ersten bis zur achten Klasse von derselben Lehrperson unterrichtet. Die Allmacht des Klassenlehrers birgt aber auch Missbrauchspotenzial. Der extrem grosse Einfluss des Klassenlehrers könne zwar fruchtbar und segensreich sein, aber auch völlig schiefgehen, schreibt selbst die anthroposophische Redaktorin Laura Krautkrämer in einem «Schulkreis»-Artikel über Prävention von sexuellem Missbrauch an Rudolf-Steiner-Schulen. Es braucht auch deshalb ein grosses Vertrauen in die Lehrer, weil ihnen nach der Steiner-Pädagogik bei der Gestaltung des Unterrichts von der Schulleitung weitgehend freie Hand gewährt wird.
Laut Bohlen werden deshalb alle Anwärter auf eine Lehrerstelle auf Herz und Nieren geprüft. Doch: «Eine der grössten Herausforderungen der nächsten Jahre wird für die Steiner-Schulen der Lehrermangel sein», sagt Bohlen und räumt ein, dass in solchen Mangelsituationen die Anforderungen an das Lehrerpersonal heruntergeschraubt würden. Am Ende ist es möglicherweise nicht die Kritik an der Anthroposophie, die den Steiner-Schulen zum Stolperstein wird, sondern der eigene Erfolg.
Vom 17. bis 31. Januar 2014 öffnen 16 Steiner-Schulen der Regionen Bern, Basel und Zürich ihre Türen. Informationen unterwww.steinerschule.ch.


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