17. Februar 2014

"Freiheiten werden nicht genutzt"

Etienne Bütikofer findet, viele Schulen seien sich zu wenig bewusst, wie viele pädagogischen Freiheiten sie hätten. Diese zu nutzen brauche aber Mut, die Bereitschaft zu Transparenz und habe oft organisatorische Konsequenzen.




"Der Druck der Eltern wird vor allem von den Medien überbetont", Bild: Valérie Chételat

"Kein Gesetz schreibt 45-Minuten-Lektionen vor", Der Bund, 17.2. von Mireille Guggenbühler


Herr Bütikofer, Studien haben gezeigt, dass Bewegung zu Beginn eines Unterrichtstages die kognitive Leistungs- und die Konzentrationsfähigkeit der Schüler in den nachfolgenden Fächern steigert. Die Stundenpläne sind allerdings selten so gestaltet, dass Sport zu Beginn des Unterrichts auf dem Programm steht. Warum werden solche wissenschaftliche Erkenntnisse im Schulalltag nicht umgesetzt?
Es gibt auch Studien, die belegen, dass man denselben Effekt erzielte, wenn man den Schultag mit Musik beginnen würde. Was ich damit sagen will: Es gibt viele Studien, welche man für die optimale Unterrichtsgestaltung heranziehen könnte. Viele Erkenntnisse werden deshalb nicht umgesetzt, weil sie grössere Konsequenzen hätten. Würde man den Tag mit Sport beginnen, hiesse dies, dass Turnunterricht erteilende Lehrpersonen jeden Morgen anwesend sein müssten.
Es brauchte doch nicht den Turnlehrer dazu. Auch die Mathematiklehrerin könnte den Unterricht mit zwanzig Minuten Bewegung auf dem Pausenplatz beginnen.
Dies wäre durchaus möglich, wenn die Person über eine entsprechende Zusatzqualifikation verfügen würde. Und es wäre auch möglich, die drei Sportlektionen für eine gewisse Zeit so aufzuteilen, dass man am Anfang jedes Tages Sport machte anstatt in drei Lektionen à 45 Minuten die Woche.
Lehrer hätten also die Freiheit, ihre Stundenpläne den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen?
Ja natürlich, diese Freiheit haben sie. Die Frage ist viel mehr, für was alles hat man als Lehrer Zeit?
Das ist das meistgehörte Argument aus Lehrerkreisen. Die Zeit fehle, weil die Lehrplanziele eingehalten werden müssten. Wie verbindlich sind diese wirklich?
Beim Lehrplan besteht viel Freiraum. In der Mathematik und im Französisch sind die Lehrplanziele relativ verbindlich, weil die Lehrmittel vorgeschrieben sind. In anderen Fächern aber haben Lehrer sehr viel Spielraum. Lehrer, die diesen Spielraum ausnutzen und zum Beispiel im NMM-Unterricht vor allem draussen sind, müssen sich aber nicht selten vor den Eltern rechtfertigen, weshalb dies nun sinnvoll ist. Es sind oft die Eltern, die Druck auf jene Lehrer ausüben, welche einen aus meiner Sicht etwas ganzheitlicheren Unterricht pflegen.
Ist dieser Druck der Eltern wirklich so hoch?
Nun ja, ehrlich gesagt sind es vielleicht 5 Prozent der Eltern, die wirklich Druck ausüben. Der Druck der Eltern wird vor allem von den Medien überbetont.
Sie bieten Kurse an, in welchen Lehrer wieder lernen sollen, bewusst die Freiheiten zu nutzen, die das Schulsystem eigentlich bieten würde. Weshalb haben Lehrer diesbezüglich Nachhilfe nötig?
Weil sie oftmals nicht wissen, was eigentlich alles möglich wäre. Es gibt zum Beispiel kein einziges Gesetz, das Lehrern vorschreibt, dass sie 45-Minuten-Lektionen halten müssen pro Fach. Man kann drei Lektionen zusammenhängen, wenn dies in einer Klasse Sinn macht und die Unterrichtsqualität verbessert. Lehrer können, wie dies etwa an Steinerschulen üblich ist, in allen Fächern über längere Zeit hinweg an einem Thema dran bleiben, den sogenannten Epochenunterricht pflegen, was pädagogisch zum Beispiel sinnvoll sein kann.
Weshalb wird dies denn so wenig gemacht?
Weil es viel Mut braucht und einen grossen organisatorischen Aufwand mit sich bringt. Zudem müssen die Lehrpersonen vor die Eltern und das Schulinspektorat hinstehen und sehr genau erklären und begründen können, weshalb sie den Unterricht so oder so gestalten. Ich kenne eine Lehrerin, welche den Eltern seit Jahren keinen genauen Stundenplan mehr abgibt, weil sie jeden Tag von Neuem entscheiden können will, woran ihre Schüler arbeiten sollen. Das heisst, sie passt den Unterricht den jeweiligen Umständen in der Klasse an. Sie hat das Vertrauen der Eltern, weil diese spüren, dass die Beziehung zwischen Schülern und Lehrerin stimmt. Unterrichten hat viel mit Beziehung und Herzblut zu tun. Wenn ich als Lehrer mit innerem Feuer den Unterricht gestalte, spielt die Form eine weniger wichtige Rolle. Für eine Schule gibt es bezüglich Unterrichtsgestaltung viele weisse Zonen.
Gibt es auch Grauzonen?
Es gibt das Beispiel eines Oberstufenschülers, dessen Schule unterstützt hat, dass er am Ende der Schulzeit die Schule nur noch an zwei Tagen besuchte und die restlichen Tage bereits im Betrieb arbeitete, in welchem er die Lehre machen wollte. So etwas ist gesetzlich eigentlich nicht vorgesehen. Aber wenn es wie in diesem Fall Sinn macht, dem Kind zugutekommt und für alle eine Entlastung ist, muss eine Schule den Mut aufbringen, dies auszuprobieren.
Wie frei ist eine Schule eigentlich in ihrer pädagogischen Positionierung?
Auch diese Freiheit ist sehr gross. Es gibt wenige Regeln. Jede Schule kann ihr eigenes Leitbild ausarbeiten und damit festlegen, welche Haltung eine Schule einnehmen, was für ein Menschenbild sie pflegen will.
Viele Leitbilder gehen aber nicht über die Definition von Pausenplatzregeln hinaus. 
Die Frage ist natürlich, ob beispielsweise die Regel, dass man sich auf dem Pausenplatz respektvoll begegnet, eine Floskel bleibt oder ob man diese ernst nimmt und grundsätzlich umsetzt. Konkret hiesse dies für eine Schule, die sich respektvolles Benehmen wünscht: Ärgere ich mich jetzt als Lehrer darüber, wenn ein Kind in der grossen Pause an die Türe des Lehrerzimmers klopft und eine Frage hat, oder nehme ich mich des Kinds an? Ein Leitbild bietet einer Schule die Chance, ihr Menschenbild zu überprüfen und darzulegen.
Diese Woche kommt der Dokumentarfilm «Alphabet» des österreichischen Regisseurs Erwin Wagenhofer in die Schweizer Kinos. Der Film übt fundamentale Kritik am Schulsystem der Industrieländer und dem damit verbundenen Menschenbild. Prominente Wirtschaftsvertreter und Wissenschaftler sagen darin, dass in der Schule nur noch Anpassungsfähigkeit, bedingungsloses Erfüllen von Vorgaben und Konkurrenzdenken statt eigenständiger Köpfe gefragt seien. Angesichts solcher Kritik muss man sich als Pädagoge doch unangenehm berührt fühlen?
Natürlich, das ist ein grosses Thema. Früher war es die Aufgabe der Schule, dass die Schüler mündig und lebenstauglich werden. Der ganzheitliche pädagogische Ansatz war sehr wichtig, das Pestalozzi-Prinzip, wonach Kopf, Herz und Hand gleichermassen wichtig für die Bildung sind, hatte einen grossen Stellenwert. Dann hat der Einfluss der Wirtschaft auf die Schule zugenommen, und alle redeten nur noch von Controlling, Monitoring und Output. Wir müssen uns die Frage stellen, ob es denn das Ziel eines Bildungssystems ist, dass ein Kind in der Wirtschaft möglichst hoch hinausklettern kann? Ein schlechter Jurist nützt einer Gesellschaft bedeutend weniger als ein guter Krankenpfleger.
In der früheren seminaristischen Ausbildung der Lehrer war dieser ganzheitliche Ansatz ein grosses Thema. Wird dies heute an der Pädagogischen Hochschule anders gelehrt?
Als die Lehrerausbildung an die Universität delegiert und damit akademisiert wurde, hat man in meinen Augen zu vieles verändert. Pädagogik zum Beispiel war anfänglich erst im zweitletzten Semester ein wichtiges Thema. Das hat sich mittlerweile geändert, heute belegen die Studentinnen und Studenten Pädagogik bereits im ersten Semester. Sie lernen unter anderem die verschiedenen Pädagogen und deren Einfluss auf die Bildung wieder kennen und vor allem erfahren sie, welchen Glauben die historischen, pädagogischen Figuren an die Kinder hatten.
Inwiefern hatten die seit 2000 bestehenden Schulleistungsuntersuchungen Pisa einen Einfluss auf die Freiheit der Unterrichtsgestaltung?
Die Messung der Leistungen einer Schule kann einen Einfluss darauf haben, wie ein Lehrer den Unterricht gestaltet. Lehrer, welche die didaktischen Freiheiten, die sie haben, ausnutzen, können aufgrund solcher Vergleiche unter Zugzwang kommen. Sie fragen sich vielleicht, ob es noch Sinn macht, mit den Schülern für den Biologieunterricht in den Wald zu gehen, um etwas zu erklären, oder ob sie einen Teil des NMM-Unterrichts nicht lieber auch gleich noch kombiniert für das Rechnenlernen aufwenden sollen, damit die Schüler in den Tests gut abschneiden. Der Glaube an die Pisa-Studien ist viel zu gross. Mit dem Lehrplan 21 soll künftig unter anderem mit einer Art Pisa-Studie für die Schweiz das Niveau der Schüler mit Stichproben überprüft werden. Die Schulen werden kaum um solche Messungen herumkommen.Das ist zu befürchten. Vom Ansatz her ist die Idee der Stichproben zwar nicht schlecht, weil diese Aufschluss darüber geben sollen, wie weit man in den Kantonen mit dem Schulstoff unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen kommt. Die Lektionenzahl für einzelne Fächer ist aber nicht überall gleich hoch. Wenn all die Messungen so vorgenommen werden sollen wie angedacht, dann müsste man aber garantieren können, dass es hernach keine öffentlichen Ranglisten geben wird.

Warum?
Weil ich überzeugt bin, dass solche Ranglisten vieles kaputt machen würden und sich noch weniger Lehrer getrauen werden, die Freiheiten, die unser Schulsystem eigentlich bietet, zu nutzen. Lehrpersonen brauchen Freiheiten und Verantwortung. Das Wort «und» ist dabei das wichtigste der drei Wörter: Das eine ist nicht ohne das andere zu haben.

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