18. Februar 2014

Harmonisierung mit Normierung verwechselt

Die Diskussion um den Lehrplan 21 geht weiter. In der Zwischenzeit haben sich über 1000 Lehrkräfte dem Protest der Gruppe 550 gegen 550 angeschlossen.
Kritiker verlangen eine offene Debatte, Neue Luzerner Zeitung, 18.2. von Harry Ziegler


Es gibt Pädagogen, die betrachten den Lehrplan 21 (LP 21) als Segen. Andere
hingegen bekunden offen Mühe mit demim LP 21 angestrebten Paradigmen-wechsel – weg von Inhalten, hin zu Kompetenzen. Eine Gruppe von Lehr-personen um den Reallehrer und heutigen Bieler GLP-Stadtrat und Publizisten Alain Pichard äussert am LP 21 fundamentale Kritik. Der Lehrplan 21 ist für die Gruppe «550 gegen 550», wie sie sich nennt, ein zu monumentales Regelwerk – mit einem Umfang von 557 Seiten und 4753 formulierten Kompetenzen und
Teilkompetenzen. Lehrer würden in dieser Regelflut regelrecht untergehen. «Der Lehrplan 21 schrammt an der Praxis vorbei», sagt Pichard. Dieser Meinung haben sich inzwischen über 1000 Lehrer aus fast allen betroffenen Kantonen angeschlossen und das entsprechende von Pichard mitverfasste
Memorandum «gegen den Lehrplan 21» unterzeichnet. Am LP 21 beteiligen sind alle deutsch- und mehrsprachigen Kantone der Schweiz. Praktisch keine Unterschriften gab es laut der Homepage der Gruppe aus dem Kanton Luzern. Die dortigen Schulleitungen seien «praktisch flächendeckend angeschrieben» worden. «Ein Rätsel, das wohl nur die Luzerner Schulleitungen entschlüsseln können», heisst es auf der Homepage weiter.

Ausgedruckt wird der Lehrplan 21 zu einem Stapel bedruckten Papiers mit 
einer Höhe von sechseinhalb Zentimetern. Vermessen hat dieses Papier der
Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers vom Institut für Erziehungs-wissenschaft der Universität Zürich. Der emeritierte 67-jährige Professor hat sich mit den Risiken und Chancen des Lehrplans 21 auseinandergesetzt. Dabei kommt er zum Schluss, dass am Lehrplan 21 neu «zunächst nur die Sprache des Diskurses, aber nicht das Problem des Unterrichts» sei. Gemäss Jürgen Oelkers habe der Lehrplan 21 aber tatsächlich «einen hohen und radikalen Innovationsanspruch. Er will ein Lehrplan neuer Art sein, einer, den es bisher nicht gegeben hat.» Die aktuell geltenden Lehrpläne beschreiben, welche Inhalte Lehrer unterrichten sollen. Der Lehrplan 21 jedoch legt fest, was die Schüler am Ende der Unterrichtszyklen können sollen. Womit die Probleme beginnen. An die Stelle der Lernziele treten Kompetenzen, die die Schüler in den Fachbereichen erwerben müssen. Der Lehrplan 21 definiert, wann ein Schüler in einem Fach kompetent ist. Dann, wenn er: " «zentrale fachliche Begriffe und Zusammenhänge versteht, sprachlich zum Ausdruck bringen und in Aufgabenzusammenhängen nutzen kann; " über fachbedeutsame (wahrnehmungs-, verständnis- oder urteilsbezogene, gestalterische, ästhe-tische, technische ...) Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Lösen von Problemen
und zur Bewältigung von Aufgaben verfügt; " auf vorhandenes Wissen zurück-greift oder sich das notwendige Wissen beschafft.» Daraus zieht Erziehungs-wissenschaftler Oelkers den Schluss, dass kompetenzorientierter Unterricht tatsächlich eine «didaktische Herausforderung» darstelle. Kritiker bezeichnen den LP 21 als teuer, in der Umsetzung zu kompliziert und bürokratisch. «Da hat wohl einer Harmonisierung mit Normierung verwechselt», schreibt die
Gruppe im Memorandum. Lehrer, die bereits Kontakt mit Kompetenzrastern
und ähnlichen Instrumenten gehabt hätten, «fürchten ernsthaft um
ihre didaktische Freiheit». «Über dem LP 21 schwebt der Geist der doktrinären
Gleichschaltung», erklären Pichard und seine Gruppe. Sie sind überzeugt, dass gerade die Fülle der Kompetenzziele die Umsetzung des Lehrplans 21 verunmöglichen werde. «Jede Schulgemeinde, jede Schule muss aus dem überladenen LP 21 ihr eigenes Substrat herausfiltern.» Damit würden «die Hoffnungen jener Eltern zerschlagen, die sich eine gewisse Harmonisierung
der Bildungslandschaft Schweiz erwünschten». Die Gruppe um Alain Pichard fordert denn auch ultimativ eine öffentliche Debatte um den LP 21. «Nur
Retouchen am Lehrplan genügen nicht», sagt Pichard. «Es braucht eine umfassende Überarbeitung des Plans.»

Gegenwärtig wertet die Projektgruppe der Deutschschweizer Erziehungs-direktoren die Konsultationsantworten zum LP 21 aus. Bis zum Ablauf der Konsultationsfrist Mitte Januar sind rund 160 Antworten eingegangen. Die Projektgruppe will im Frühling die Auswertung präsentieren. Danach wird der LP 21 nochmals überarbeitet. Die Freigabe des Lehrplans 21 zur Einführung in den Kantonen durch die Erziehungsdirektoren ist auf den Herbst dieses Jahres
vorgesehen. Die meisten beteiligten Kantone gehen jedoch davon aus, dass die Einführung frühestens im Schuljahr 2017/18 erfolgen wird.

Obwohl die Marke von tausend Unterschriften von Personen aus der Schulpraxis am 6. Februar erreicht worden ist, werden die Lehrplan-Kritiker um Alain Pichard weitersammeln. Damit wollen sie den Druck aufrechterhalten. Weiter fordern sie einen sofortigen Stopp der Geheimhaltung zu Gunsten eines offenen Dialogs, eine effizientere Organisationsform mit klaren Verantwortlich-keiten und Zuordnungen sowie das Auswechseln von Personal und den Einbezug von Kritikern in den Reformprozess. «Wenn man einen Paradigmen-wechsel will, von Inhalten zu Kompetenzen, dann muss man ihn mit den Betroffenen diskutieren », sagt Alain Pichard. Und er verlangt volle Kosten-transparenz. «Die Verantwortlichen müssen klarmachen, welche Neuerung wie viel kosten und wo das Geld herkommen soll.» Um die nötige Zeit für den öffentlichen Diskurs und eine Überarbeitung zu haben, fordert Pichard von der
Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz die Verschiebung
der Einführung. Einige kantonale Bildungsdirektoren hätten zwar bereits signalisiert, dass sie die Kritik der Lehrerverbände und Wissenschaftler
sowie die kritischen Vernehmlassungsbeiträge der Schulen aufnehmen und den Lehrplan 21 überarbeiten wollen. Das sei wohl positiv zu werten. Den Tatbe-weis in Form konkreter Vorschläge allerdings müssten die Bildungsdirektoren jedoch erst noch erbringen.

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