5. März 2014

Auswege aus dem Fremdsprachendilemma

Die Initiative für eine Fremdsprache in der Primarschule sei «ein zersetzender und verderblicher Vorschlag für unsere friedliche Koexistenz», wie es ein Vorstandsmitglied der staatlich unterstützten Sprachorganisation Pro Grigioni Italiano ausdrückt. Ähnlich apokalyptisch tönt es aus der Romandie, wo Lehrer an die nationale Solidarität appellieren, wenn einzelne Kantone mit dem Gedanken spielen, Französisch an der Oberstufe anzusetzen. Der Aufschrei weckt Misstrauen: Sind wir unsolidarisch und schlechte Schweizer, bloss weil wir uns einen besseren Sprachunterricht wünschen?

Niemand hat etwas gegen Fremdsprachen, doch wann und mit welcher beginnen, das ist die Frage. Bild: de.de

Dilemma der Fremdsprache, Die Weltwoche, 09/2014, von Urs Kalberer


Während der Lehrplan 21 grossspurig von der Vereinheitlichung der Bildungsinhalte spricht, existieren in der Deutschschweiz gleich mehrere Modelle der Umsetzung des Sprachenkonzepts. Damit wird der Verfassungsauftrag der Harmonisierung ausgerechnet im wichtigsten Bereich missachtet.
Blenden wir zurück: Im Jahr 2004 fasste die Erziehungsdirektorenkonferenz einen schwerwiegenden Grundsatzentscheid: Be­raten von führenden Sprachwissenschaftlern des Landes, beschloss man, den Fremdsprachenunterricht um zwei Jahre vorzuverlegen. Das Hirn von Kindern sei besonders aufnahmefähig für Sprachen. Gleichzeitig fühlte man sich durch den weltweit zu beobachtenden Trend zur Vorverlegung der Fremdsprachen bestätigt.
Der Zeitpunkt ist nicht entscheidend
In der Zwischenzeit zeigen die Erfahrungen mit der Vorverlegung zwei Dinge: Es gibt noch keine praktikable Didaktik für Primarschüler – das Versprechen des spielerischen Lernens ohne Anstrengung kann nicht eingehalten werden. Zweitens ist der Erfolg – gemessen am riesigen Aufwand – bescheiden. Es ist für die Sprachkompetenz am Ende der Schulzeit nicht entscheidend, wie früh man beginnt. Kinder können nämlich ihre Vorteile gegenüber Erwachsenen nur ausspielen, wenn sie sehr viel Kontakt zu neuen Sprachen erhalten. Da ältere Schüler sehr viel schneller und nachhaltiger lernen als jüngere, ist ein auf weniger Jahre komprimierter Unterricht mit mehr ­Wochenlektionen gegen Ende der Schulzeit wirkungsvoller. Diese Erkenntnis ist die erste Voraussetzung zum Durchschneiden des ­helvetischen Sprachenknotens und entschärft die herrschende Hysterie rund um das schulische Fremdsprachenlernen. Der Beginn des Unterrichts einer Fremdsprache ab Sekundarstufe ist keine ­Katastrophe, sondern kann durchaus ein ­Vorteil sein.
In der Fremdsprachenpolitik treten die Westschweizer Kantone geeint als eine Sprachregion auf – unabhängig davon, ob einsprachig oder mit einem deutschsprachigen Kantonsteil. Im Unterschied dazu sind die Deutschschweizer Kantone in heterogene Fraktionen aufgespalten. Sprachlich gesehen besteht die Schweiz aber nicht aus 26 Kan­tonen, sondern aus vier Regionen. Wie die Westschweiz soll auch die Deutschschweiz ­gemeinsam auftreten. Der zweisprachige Kanton Bern muss den Deutschbernern die Freiheit lassen, sich an der restlichen Deutschschweiz zu orientieren – genau gleich, wie es die Französischberner mit der Romandie auch tun. Das ist der Preis für die von der ­Bevölkerung geforderte interkantonale ­Mobilität.
Die Bedürfnisse der einzelnen Sprachregionen unterscheiden sich deutlich voneinander. Für einen Rätoromanen ist Deutsch viel zentraler als für einen Deutschbündner Romanisch. Unsere momentane Politik gründet auf einem «Gleichgewicht des Schreckens». So ist aus den Reaktionen aus der lateinischen Schweiz zwischen den Zeilen zu lesen: «Wenn wir schon das Opfer auf uns nehmen und Deutsch ab der 3.Klasse unterrichten, dann erwarten wir, dass auch ihr unsere Sprache ab der 3.Klasse unterrichtet.» Doch diese Art von ausgleichender Gerechtigkeit kann keine tragende Stütze für ein Sprachenkonzept sein.
Besonders ausgeprägt zeigt sich dies am Beispiel des einzigen dreisprachigen Kantons Graubünden. Dort rühmt man sich eines Konzepts, das den Schülern in jeder Sprache arithmetisch genau gleich viele Fremdsprachenlektionen zur gleichen Zeit zumutet. Was rechtlich und politisch durchaus vertretbar aussieht, wird in der Realität zur Farce. Die Romanen, die zweisprachig deutsch-romanisch aufwachsen und für die Italienisch nahe liegt, werden in den gleichen Topf geworfen wie die Deutschbündner. Diese wiederum lernen – aus erzwungener kantonaler «Solidarität» und mit desolaten Resultaten – ab der drittenPrimarklasse Italienisch und nicht wie ihre Kameraden in der restlichen Ostschweiz Englisch. Wir brauchen darum eine differenzierte Gewichtung der Interessen jeder Sprachregion.

Die zu Beginn zitierten Reaktionen auf ­einen Abbau von Französisch oder Italienisch an der Primarschule gehen von einem kontingentierten Sprachenlernen aus, das die Landesinteressen höher einstuft als die Bedürfnisse der Lernenden. Wenn die Westschweiz wie bisher Deutschkenntnisse als prioritär einstuft, dann darf sie das tun. Niemand soll aber die Italienischbündner und Tessiner zwingen, Deutsch zu lernen, genau gleich, wie niemand den Deutschschweizern ein schlechtes Gewissen einreden darf, wenn sie Französisch erst ab der Oberstufe lernen wollen.

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