16. März 2014

Der Mythos der nationalen Kohäsion

Mit Michael Furger blickt jemand hinter die fadenscheinige Argumentation von Bundesrat Alain Berset, der sich "aus Gründen des nationalen Zusammenhalts" für die Landessprachen an der Primarschule einsetzt. Der Text braucht keine weiteren Erläuterungen.
Schulfranzösisch wird überschätzt, NZZaS, 16.3. von Michael Furger


Gäbe es eine Liste der häufigsten politischen Phrasen, dürfte ein Begriff nicht fehlen: die nationale Kohäsion. Wo wahre Argumente fehlen, beschwört das politische Personal in der Schweiz gerne den inneren Zusammenhalt des Landes. Zusammenhalt ist immer gut. Gegen Zusammenhalt hat niemand etwas einzuwenden. Und so war es diese Woche Bundesrat Alain Berset, der sich anschickte, mit der Kohäsions-Keule ein paar aufmüpfige Kantone wieder in die richtige Spur zu klopfen.
In seiner Eigenschaft als Innenminister hat Berset dem Nationalrat zur Kenntnis gebracht, er werde notfalls per Dekret dafür sorgen, dass in allen Kantonen weiterhin Französisch schon auf der Primarschulstufe gelehrt wird. Die nationale Kohäsion erfordere dies. Der Grund für Bersets Drohung sind Vorstösse und Initiativen in diversen Deutschschweizer Kantonen mit dem Ziel, künftig nur noch eine statt zwei Fremdsprachen in der Primarschule zu unterrichten. In den meisten Fällen ist absehbar, welche der beiden Sprachen - Englisch oder Französisch - unter die Räder käme: Französisch.
Nun ist es so, dass die Lehrkräfte schon seit einiger Zeit kritisieren, dass zwei Fremdsprachen in der Primarschule lerntechnisch wenig Sinn ergeben. Viele Kinder seien überfordert, folgerte der Lehrerverband letztes Jahr. Es handelt sich hier also um ein pädagogisches Problem.
Nicht für Berset und andere Kohäsions-Politiker aus der Westschweiz. Den Romands war es noch nie geheuer, wie schnell Englisch in der Deutschschweiz zur bevorzugten Fremdsprache in der Schule aufgestiegen ist. So sah eine welsche Nationalrätin vorletztes Jahr eine beunruhigende Entwicklung nahen. «Die nationale Kohäsion ist in Gefahr!», schrieb sie in einem Deutschschweizer Medium und schlug Alarm. Die Lehrkräfte wies sie an, sich als Brückenbauer zwischen den Kulturen zu betätigen - indem sie Französisch unterrichten. Ganz Brückenbauerin, fasste die Sprachexpertin ihre Anweisungen an die Deutschschweiz auf Französisch ab.
Nach der Logik der Sprachen-Kohäsion fühlen sich die Deutschschweizer also den Romands mehr zugehörig, wenn sie als Kinder Französisch in der Primarschule gelernt haben - und umgekehrt. Das frühe Erlernen der jeweils anderen Sprache soll identitätsstiftend sein. Die Idee klingt hübsch, ist aber, wenn wir ehrlich sind, ziemlich hilflos. Wie soll das konkret funktionieren? Weshalb genau sollen Kenntnisse in der Sprache des anderen uns alle besser zusammenhalten?
Dass sich Romands und Deutschschweizer zuweilen missverstehen, bestreitet niemand. Aber es sind in aller Regel keine sprachlichen Missverständnisse daran schuld, sondern eine unterschiedliche Mentalität und Kultur. Und diese werden in zwei bis drei Wochenlektionen in der Primarschule nicht einmal rudimentär vermittelt. Natürlich ist es sinnvoll, wenn sich die Bewohner der Landesteile sprachlich verstehen. Doch machen wir uns nichts vor: Die meisten Bewohner dieses Landes, sofern sie nicht an der Sprachgrenze wohnen, kommen selten in die Lage, eine andere Landessprache zu benutzen. Sprachbarrieren werden heute, auch innerhalb der Schweiz, zunehmend mit Englisch überbrückt, in der Wirtschaft und der Wissenschaft dominiert diese Sprache sowieso.
Ein grosser und schnell wachsender Teil der Schweizer Bevölkerung spricht ohnehin nur eine Landessprache. Wer als Ausländer Bürger dieses Landes werden will, muss eine unserer Amtssprachen beherrschen. Von zweien ist nirgends die Rede. Gefährdet also der eingebürgerte, aber deutschunkundige Franzose in Genf den nationalen Zusammenhalt? Oder der Deutsche in Zürich ohne Französischkenntnisse? Und was ist mit den Expats aus dem englischen Sprachraum, die weder das eine noch das andere Idiom beherrschen? In den Augen der Kohäsions-Beauftragen muss die Schweiz kurz davorstehen, auseinanderzubrechen.
Hören wir auf, unsere Landessprachen zu verklären und politisch aufzuladen. Die Sprache als Teil der nationalen Identität mag in einem einsprachigen Land funktionieren, aber nicht in der mehrsprachigen Schweiz. Hier sind Sprachen - die Muttersprache ausgenommen - ein Kommunikationswerkzeug. Wir nutzen sie, um uns auszutauschen. Das ist wichtig genug. Dass ausgerechnet ein Land, das weltoffen und international sein will, seine nächste Generation aus reiner Ideologie an die Landessprachen festzurren will, ist ein Widersinn sondergleichen.
Wohlverstanden, es gibt sehr gute Gründe dafür, in den Schweizer Schulen Französisch beziehungsweise Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten. Zum Beispiel, weil es sich um Weltsprachen handelt, die uns Zugang ermöglichen zu einem Schatz grossartiger Literatur. Das ist allemal mehr als der Mythos des nationalen Zusammenhalts. Aber weshalb müssen dann zwei Fremdsprachen derart eng aufeinanderfolgend in die unterste Schulstufe gedrückt werden - so wie das kaum ein anderes Land praktiziert? Und weshalb soll man nicht Englisch den Vorzug geben, wenn die Motivation für diese Sprache doch erwiesenermassen grösser ist?

Die Diskussion über Fremdsprachen in der Schule ist eine pädagogische Debatte. Sie sollte es bleiben. Die Politik hat hierzu wenig Substanzielles beizutragen. Als Kitt zwischen den Landesteilen taugt der Schulunterricht nicht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen