Robinson ist ein weltweit gefragter Experte in Bildungsfragen, seine TED-Rede 'How Schools kill Creativity' ist mit über 25 Millionen Klicks die meistgesehene in der Geschichte der TED-Konferenzen.
"Das Können allein gibt auf Dauer keine Befriedigung", Der Bund. Interview mit Mathias Morgenthaler
Herr Robinson, Sie
beschreiben in Ihrem neuen Buch*, wie es gelingt, nicht nur einen Job zu
machen, sondern begeistert zu leben und zu arbeiten. Worauf kommt es dabei
primär an?
KEN ROBINSON: Wichtig ist,
nicht nur darauf zu achten, was man gut kann, sondern auch zu berücksichtigen,
was man wirklich gerne tut. Ich treffe im Berufsalltag so viele Menschen, die
hoch kompetent sind in dem, was sie tun – nur geht ihnen leider jegliche innere
Leidenschaft ab. Auf Dauer gibt es keine Befriedigung, etwas gut zu können,
wenn man es nicht gleichzeitig liebt, wenn es nicht unser inneres Feuer nährt.
Für Kinder ist es der
Normalzustand, etwas mit Leidenschaft zu tun – warum bleibt die Begeisterung
später bei vielen auf der Strecke?
Als Kinder sind wir stark
auf uns selbst bezogen und praktisch frei von Pflichten. Erst mit der Zeit
entwickelt sich das Bewusstsein, dass wir nicht das Zentrum der Welt sind,
sondern dass wir uns in einem Umfeld bewegen, das Erwartungen an uns hat und
Anpassung erfordert. Die grosse Gefahr besteht darin, dass wir uns zu stark von
den Erwartungen anderer und von unserer Angst, zu scheitern und jemanden zu
enttäuschen, leiten lassen. Bei manchen Menschen kann man von aussen
beobachten, wie sie sich mehr und mehr von ihrem Kern entfernen, während sie
den Pflichten hinterherlaufen. So verlieren sie erst das Interesse und dann die
Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Viele versuchen diese schmerzhafte
Entfremdung mit materiellem Erfolg und Status zu kompensieren, aber diese Dinge
schützen nicht vor Ernüchterung und depressiver Verstimmung. Aber ich kenne
auch viele Erwachsene, die jeden Tag mit grossem Enthusiasmus zu Werke gehen.
Was zeichnet diese Menschen
aus?
Sie vertrauen auf ihre
Phantasie und Kreativität. Leider wird diese Fähigkeit nicht sehr gefördert,
von vielen Eltern nicht und schon gar nicht von der Schule. Unser Schulsystem
wurde in seinen Grundzügen in der Aufklärung konzipiert, es funktioniert nach
der Fliessbandmentalität und passt perfekt ins Industriezeitalter. Die Schulen
sind heute noch organisiert wie Fabriken: Das beginnt bei der Architektur,
findet seine Fortsetzung in der Pausenklingel, in der strikten Aufteilung der
Fächer und Einteilung nach Alter – als wäre das «Produktionsdatum» der
wichtigste gemeinsame Nenner von Schülern. Alles läuft auf Konformität und
Standardisierung hinaus. Die Schüler werden mit Wissen versorgt und lernen,
dass es jeweils genau eine richtige Antwort gibt auf jede Frage.
Damit tun Sie vielen
Schulen unrecht.
Mir ist klar, dass in
manchen Schulen hervorragend gearbeitet wird, altersübergreifend, in Gruppen.
Aber die Mehrheit der Schulen trägt wenig bei zum Wachstum der Persönlichkeit
und zur Fähigkeit, kreativ mit Herausforderungen umzugehen. Was brauchen wir
denn heute für Fähigkeiten? Müssen wir Akademiker sein und über lückenloses
Faktenwissen verfügen? Eine der wichtigsten Fähigkeiten ist es, eine
Fragestellung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, sprich: divergent zu
denken. Das ist die Grundvoraussetzung für Kreativität und Innovation. Fördert
die Schule dies? Im Gegenteil. Für die Längsschnittstudie «Break Point and
Beyond» wurden 1600 Kinder im Kindergarten gefragt, wie viele Verwendungszwecke
es für eine bestimmte Sache gibt. Das Resultat: 98 Prozent der 5-jährigen
Kinder zeigten so viel Phantasie, dass man sie als Genies in divergentem Denken
bezeichnen kann. Fünf Jahre später fielen gerade noch 32 Prozent in diese
Kategorie. Im Alter von 14 Jahren waren es nur noch 10 Prozent, der grosse Rest
antwortete sehr uniform.
Und Sie folgern daraus,
dass die Schule unser Potenzial, kreativ zu sein, auf ein Minimum herabsenkt?
Das ist vermutlich der
Preis, den wir für Konformität und Standardisierung bezahlen. Und dafür, dass
wir den Unterricht immer stärker darauf ausrichten, was auf dem Arbeitsmarkt
vermeintlich gefragt ist. In vielen Ländern werden die musischen Fächer mehr
und mehr aus dem Stundenplan gestrichen: Musik, Film, Tanz, Literatur, Theater,
all diese Themen, die unsere ästhetische Erfahrung erweitern und all unsere
Sinne ansprechen, haben einen schweren Stand. Und gleichzeitig wundern wir uns,
dass unsere Kinder Mühe haben, sich zu konzentrieren und dem Unterricht zu
folgen. Natürlich leben sie in einer reizüberfluteten Welt, aber hat die
rasante Verbreitung der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung ADHS auch damit zu tun,
dass die Schüler zu einseitig gefordert werden. Etwas überspitzt gesagt: Wir
betäuben sie mit Ritalin, damit sie schadlos durch unser Schulsystem kommen.
Mein Ansatz läuft darauf hinaus, sie aufzuwecken mit interessantem Stoff und
zeitgemässen Unterrichtsformen.
Wie haben Sie nach der
Schule Ihren Beruf und Ihre Berufung gefunden?
Ich hatte viele Interessen,
aber keine Ahnung, was aus mir werden sollte. Auf der Schule gab es einen
Berufsberater. Der riet mir, Zahnarzt oder Buchhalter zu werden, obwohl ich
mich offensichtlich sehr für Englisch und Theater interessiert hatte an der
Schule. Ich befolgte danach keine Ratschläge anderer, sondern achtete auf meine
Interessen und auf Gelegenheiten. Offen gestanden hatte ich keinen Plan, aber
ich wusste immerhin, was ich nicht wollte. So war mir klar, dass ich
keinesfalls Theaterdirektor werden wollte, obwohl ich die Bühne sehr liebte.
Mir gefiel das Theater, aber der Alltag der Theaterschaffenden wäre nichts für
mich gewesen. Andere Jobs hätte ich gerne gehabt, bekam sie aber nicht – und
begriff erst Jahre später, dass das gut war so. Wie sang der Country-Sänger Garth Brooks so schön:
«Some of God's greatest gifts are unanswered prayers.» Oft ergeben sich die besten
Gelegenheiten dann, wenn ein Wunsch sich nicht erfüllt hat.
Braucht es nicht ein Ziel,
eine Mission, einen roten Faden für die berufliche Laufbahn?
Doch, aber diese
kristallisiert sich erst heraus, indem man seinen Neigungen, Interessen und den
Opportunitäten folgt. Das Leben funktioniert nicht linear, sondern organisch.
Bei vielem verstehen wir erst im Rückblick, warum es wichtig war. Ich habe mich
früh für Schul- und Erziehungsfragen interessiert und konnte mich in meiner
Dissertation ausführlicher damit beschäftigen. Später wurde es zu einem Teil
meines Berufs. Indem wir unseren Interessen folgen und Gelegenheiten
wahrnehmen, kreieren wir unser Leben – im Idealfall. Oft lassen sich Menschen
leider von ihren Interessen abbringen, weil sie auf Leute hören, die ihnen
sagen, was sie zu tun haben. Schliesslich leben sie ein Leben, das sie nicht
wirklich gewählt haben.
Wenn Sie in einem Satz
beschreiben müssten, wofür Sie täglich zur Arbeit gehen, wie würde dieser Satz
lauten?
Ich bin seit 37 Jahren mit
meiner Frau zusammen und wir sind längst nicht nur privat, sondern auch
beruflich ein gutes Team. Vor ein paar Jahren haben wir uns angesichts der
vielen Tätigkeiten mit den unterschiedlichsten Leuten gefragt, was eigentlich
der gemeinsame Nenner ist. Da kristallisierte sich die Mission heraus, das
Bildungssystem zu transformieren in Richtung eines umfassenderen Verständnisses
von menschlichen Fähigkeiten und Kreativität. Das betrifft nicht nur die
Schule, sondern unsere ganze Gesellschaft. Wir können die aktuellen
Herausforderungen nicht mit dem traditionellen linearen und deduktiven Denken
bewältigen, das in der Vergangenheit geholfen hat. Es braucht eine Vielzahl an
motivierten und kreativen Köpfen, die neue Antworten finden.
Und der Grundstein soll in
der Schule gelegt werden. Erwarten Sie nicht etwas viel von der Schule, wenn
Sie die fixen Klassen und die Stundenpläne und die Pausen abschaffen und
individuelle Förderung verankern wollen? Oder anders gefragt: Wird die Schule,
die Sie sich wünschen, nicht viel teurer als die heutige?
Nein, keineswegs. Wenn mehr
in Gruppen gearbeitet wird und persönliche Interessen stärker gewichtet werden,
verlangt das zwar ein Umdenken bei den Lehrern, die Schule wird dadurch aber
nicht zwangsläufig teurer. Oder sagen wir es so. Wenn Sie Fastfood und
qualitativ hochwertiges Essen vergleichen, sollten Sie nicht nur den Endpreis
anschauen. Der Preis eines Burgers ist zwar tief, die externen Kosten sind aber
sehr hoch, wenn sie die Massentierhaltung inklusive Hormonen und
Fertilisierung, die Verpackung, die Pestizide und alle anderen Faktoren
berücksichtigen. So ist es auch bei der Schule. Standardisierung ist zwar
effizient und bequem, aber nicht billig – der Schulfrust vieler Menschen, die
Schere zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern, die ADHS-Problematik, das
alles wiegt schwer. Ich bin kein Romantiker, ich weiss, dass die Bildung
ökonomische, kulturelle und soziale Ziele zu berücksichtigen hat.
Was ist in Ihren Augen das
höchste Ziel der Bildung?
Dass die jungen Menschen
nicht nur mit Wissen abgefüllt werden, sondern auch eine Ahnung davon erhalten,
was in ihnen steckt und was durch sie in die Welt kommen könnte. Das macht auch
die Aufgabe der Lehrer viel interessanter, als wenn sie primär Stoff vermitteln
und Wissen abfragen.
Kontakt und Information:
http://sirkenrobinson.com
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