24. April 2014

Primarfremdsprachen im Linthgebiet

Was schweizweit diskutiert wird, hat auch Auswirkungen aufs Linthgebiet im Kanton St. Gallen. Dort hat sich Pascal Büsser für die "Schweiz am Sonntag" umgesehen und umgehört. In seinem Erlebnisbericht lässt er Lehrerinnen, Schulleiter und weitere Experten zu Wort kommen.
Streit ums Schulfranzösisch, Schweiz am Sonntag, 20.4. von Pascal Büsser


Politik und Experten streiten sich um den Unterricht von Fremdsprachen in der Primarschule. Die «Schweiz am Sonntag» hat sich im Linthgebiet umgehört.
Und sich in eine 5. Klasse in Kaltbrunn gesetzt.

Von Pascal Büsser

«On commence avec un petit jeux.» Die Ankündigung von Lehrerin Desirée Steiner ist kein Zufall. Spielerisches Lernen wird heute im Fremdsprachenunterricht an der Primarschule gross geschrieben. Auch bei Steiners 5. Klasse in Kaltbrunn.
Auf einen Zettel mit drei mal drei Feldern sollen die Schüler neun Ge- sichtsteile oder Kleidungsstücke schreiben. «Neuf choses différentes.» Die Anweisungen gibt die Lehrerin auf Französisch. Nur zwischendurch wiederholt sie komplizierte Begriffe auf Deutsch. Die Schüler scheinen ihr gut folgen zu können – zumindest die meisten.
In der Hand hält die Lehrerin kleine Zettel mit Stichwörtern, um Schülern auf die Sprünge zu helfen, denen die bereits gelernten Begriffe partout nicht mehr einfallen wollen. Hinten im Schulzimmer hängt zudem eine Wäscheleine mit Kleidungsstücken, die auf Französisch angeschrieben sind.

Um den Fremdsprachenunterricht an der Primarschule ist ein landesweiter Streit entbrannt. Vorstösse oder Volksinitiativen in sieben Kantonen (BL, GR, LU, NW, SH, SO, TG) wollen die zweite Fremdsprache wieder aus der Primarschule kippen. Im Kanton St. Gallen, wo seit 2008 zwei Fremdsprachen in der Primarschule unterrichtet werden, hat die SVP in der Februarsession eine entsprechende Interpellation eingereicht. Diese fordert, dass in der Primarschule nur noch Englisch gelehrt wird.
Zudem haben über 70 Kantonsräte in einem parteiübergreifenden Postulat die St. Galler Regierung beauftragt, eine Bilanz zu den Erfahrungen mit zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe zu liefern. Und auf dieser Grundlage zu prüfen, ob das Französisch auf die Oberstufe verschoben werden soll.
Die Schüler seien mit zwei Fremdsprachen überfordert, lautet die Begründung. Bei Kritikern in anderen Kantonen herrscht der gleiche Tenor. Ein Drittel der Primarschüler komme bei zwei Fremdsprachen nicht mit, sagte etwa Annamarie Bürkli, Präsidentin des Luzerner Lehrerverbands, gegenüber «10 vor 10».

Fragt man bei den Schulleitern der Region nach, ist das Echo gemischt. Für Thomas Rüegg, Schulpräsident von Rapperswil-Jona, ist Bürklis Aussage «zu pauschal und vor allem auch sehr stark auf die Fremdsprachenthematik fokussiert beziehungsweise reduziert». Auch Thomas Pedrazzoli von der Schule Schmerikon hält die Aussage für «politisch überspitzt». Für Schmerikon könne er solche Zahlen nicht bestätigen.
Auch in Schänis, Kaltbrunn und Uznach hält man diese Zahlen für zu hoch angesetzt. Schwierigkeiten gebe es durchaus. «Bei jenen, die generell Mühe haben, entsteht zusätzlicher Förderbedarf», sagt etwa Mario Grob von der Schule Uznach. Dieser Bedarf an zusätzlichen Ressourcen sei bei der Einführung von Frühenglisch wohl unterschätzt worden. Die Situation sei für die Schule je- doch zu bewältigen.
Bei Schülern, denen ohnehin alles leicht falle, wirke Frühenglisch und Französisch sogar lernanimierend. Weil Förderprogramme ganzheitlich liefen, sei die Zahl der Schüler mit Mühe nur schwer zu quantifizieren, so Grob.
Kinder, Die dem normalen Unterricht nicht folgen können, bekommen so genannte individuelle Lernziele. Allerdings wird dieses Mittel nur bei wenigen Einzelfällen angewandt, wie eine Umfrage bei den Schulen der Region zeigt. «Wir gehen damit extrem zurückhaltend um, um nicht zu früh Weichen zu stellen», sagt Thomas Pedrazzoli stellvertretend für alle Schulleiter.

Schwierigkeiten haben aber weit mehr Schüler. «Nicht nur schwächere, auch mittelgute haben teils Mühe», sagt beispielsweise Richard Blöchlinger, Schulleiter in Eschenbach. Problematisch ist für ihn zudem, dass Englisch und Französisch benotet werden und in die Bewertung einfliessen, ob es jemand in die Sekundar- oder die Realschule schafft.
«Bei der Einführung stand die Idee im Vordergrund, in der Primar die Freude an Fremdsprachen zu wecken», so Blöchlinger. Mit den Noten sei der Leistungsdruck automatisch gestiegen. Für Blöchlinger wäre es deshalb eine Überlegung wert, nur noch eine Fremdsprache zu benoten. Diese Idee hat der Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, Christian Amsler, unlängst vorgebracht. Der nationale Lehrerverband for- dert gar, dass die zweite Fremdsprache in der Primar nicht mehr obligatorisch ist – sondern zum Wahlpflichtfach wird.
Eine Entschlackung des Stundenplans halten alle Schulleiter für zumindest prüfenswert. «Der Stundenplan eines Fünftklässlers ist mit 30 Unterrichtslektionen voll, meiner Meinung nach zu voll», sagt etwa Ruedi Eicher, Schulleiter in Schänis. «Ich erachte die früheren 28 Lektionen als ideal.» Ob bei den Fremdsprachen gespart werden soll, darüber gehen die Meinungen auseinander.

«Bingo», ruft Pirmin freudig durchs Kaltbrunner Klassenzimmer. «Déjà?», fragt Lehrerin Desirée Steiner skeptisch. Zur Kontrolle muss Pirmin die drei Wörter in einer Reihe aufsagen: «Le t-shirt, les cheveux, la bouche.» Kurz darauf hat auch Andreas eine Reihe zusammen. Er zählt auf: «La joue, le nez, äh, le Auge.» – Gelächter im Klassenzimmer. – «L’oeil», hilft die Lehrerin. «Hast du geschrieben oder gezeichnet?», fragt sie, ausnahmsweise auf Deutsch. Andreas: «Geschrieben, aso die Mehrzahl, les yeux.» Verzwickt, dieses Französisch.
Doch verpackt in Bingo scheint die Fremdsprache den Kaltbrunner Fünftklässlern Spass zu machen. «Nochmals», rufen sie, als die Lehrerin das Ende des Spiels verkündet.

«Die Lehrmittel erlauben heute explizit einen spielerischen Zugang zur Sprache», sagt ein Mann, der es wissen muss. Marcel Gübeli, selbst Vater von zwei Pri- marschülern, ist Direktor der Interkan- tonalen Lehrmittelzentrale (ILZ) in Rapperswil-Jona. Im Gegensatz zu früher soll der Sprachunterricht nicht mehr defizitorientiert sein, wie Gübeli das nennt. «Wenn ich in der Schule etwas nicht richtig gesagt habe, hiess es: ‘Falsch’. Heute sollen Schüler zum Reden motiviert werden, auch wenn sie dabei Fehler machen.
Grammatik büffeln und endlose Wortlisten lernen sollte in der Primarschule nicht im Vordergrund stehen. «Doch die Didaktik im Lehrmittel und der Alltag im Unterricht können weit auseinanderliegen», weiss Gübeli.
Denn eine  spielerische Sprachvermittlung stellt an die Lehrkraft grosse Ansprüche. Der Weiterbildungsbedarf, den ein neues Fach mit sich bringt, werde oft unterschätzt, meint Gübeli. «Wenn man Weiterbildung wirklich gut machen will, kostet das Millionen.» Und viel Zeit. Interessanterweise gibt es in Französisch, und nicht im jüngeren Fach Englisch, einen Rückstand bei der Lehrerausbildung, wie der Kanton in einem Bericht von 2013 festhält.
Unabhängig der Lehrmittel bleibt die Lehrperson ein entscheidender Erfolgsfaktor im Unterricht. «Sie muss in der Lage sein, Freude an einem Fach zu vermitteln, sonst wirds mühsam.» Gübeli ist sich indes bewusst: «Nicht jedes Lehrmittel begeistert jeden Lehrer.»

Eine Nationalfonds-Studie von 2010 hat bei den Englischkenntnissen von Schülern am Ende der
6. Klasse grosse Unterschiede zutage gefördert. «Neben den Voraussetzungen, welche die Schülerinnen und Schüler mitbringen, sind es mit grosser Wahrscheinlichkeit vor allem Cha- rakteristiken der Unterrichtsgestaltung, die dafür verantwortlich sind», folgert die Autorin. Sprich: Das Können der Lehrkraft ist entscheidend.
Die Studie untersuchte auch, wie sich Frühenglisch auf den Erwerb von Französisch in der 5. Klasse auswirkt. Ergebnis: «Bereits vorhandene Sprachkenntnisse sind beim Lernen der zweiten Fremdsprache Französisch nützlich.» Eine Beobachtung, die mehrere Schulleiter aus der Region teilen. Auf Basis einer weiteren Nationalfondsstudie von 2009 folgert die Erziehungsdirektorenkonfe- renz: Die grosse Mehrheit der Schüler sei mit zwei Fremdsprachen nicht überfordert – und habe Spass am Unterricht.

Bei Urs Kalberer sorgen diese Aussagen für Kopfschütteln. Der Sekundarlehrer in Landquart ist ein vehementer Kritiker der aktuellen Strategie der Erziehungsdirektorenkonferenz mit zwei Fremdspra- chen auf der Primarstufe. Für ihn ist die Frage nach der Überforderung der Schüler falsch gestellt. Die entscheidende müsse lauten: Was bringts? Seine Antwort: Wenig bis nichts. «Was Primarschüler lernen, holen Sekundarschüler innert weniger Monate auf», sagt Kalberer. Weil ältere Schüler viel effizientere Lernstrategien anwenden könnten.
Kalberer stützt sich bei dieser Aussage auf eine eigene Diplomarbeit an der Universität Manchester von 2007, für die er bestehende Studien zu frühem Fremdsprachenlernen zusammengefasst hat. Sein Schluss: «Der Entscheid zur Einführung von Frühfremdsprachen ist ein Experiment, das sich nicht auf empirisch erhärtete Erfolgszahlen stützen kann. Im Gegenteil, die meisten Studien sind kritisch.» Die Erziehungsdirektorenkonferenz stellt sich derweil auf den Standpunkt, dass es noch zu früh sei für eine abschliessende Bilanz.

Die Rahmenbedingungen dürften ein zentrales Teil im Puzzle sein. Das Argument, dass man Fremdsprachen «je früher desto besser» lerne, ziehe nicht grundsätzlich, meint Urs Kalberer. Um den Vorteil des quasi natürlichen Sprachenlernens auszunutzen, müsse man viel länger der Fremdsprache ausgesetzt sein als zwei bis drei Stunden pro Woche.
Unterstützung erhält Kalberer diesbezüglich vom früheren Kinderarzt und Buchautor Remo Largo aus Uetliburg. Die Diskussion, ob Frühenglisch oder Frühfranzösisch oder beides unterrichtet werden solle, führe am Kern des Problems vorbei. «In zwei bis drei Stunden pro Woche können Kinder keine Fremdsprache lernen, das ist pädagogisch unvernünftig», meint Largo. Insbesondere auf Primarstufe. «In dem Alter können Kinder eine Sprache nicht analytisch lernen, sondern müssen sie erleben. Wenn man sie zwei drei Tage pro Woche auf Französisch oder Englisch unterrichtete, dann würde es funktionieren.» Doch woher die Lehrkräfte dafür nehmen?
Da ein solches Modell für die Volksschule wohl Utopie bleibt, ist für Kalberer klar: Die zweite Fremdsprache auf Primarstufe soll weg. Zugunsten von mehr Deutsch und nach Möglichkeit intensiverem Fremdsprachenunterricht auf der Oberstufe.
Allerdings tut sich dann bereits die nächste grosse Frage auf. Darf man in der Schweiz dem Englisch gegenüber dem Französisch den Vortritt geben? Es ist absehbar, dass viele Deutschschweizer Kan- tone das Frühenglisch beibehalten und das Französisch in die Oberstufe verschieben würden. Vertreter der Romandie sehen dadurch den nationalen Zusammenhalt in Gefahr (siehe Box).

«Ouvrez vos cahiers d’activités à la page trent-quatre», fordert Lehrerin Desirée Steiner ihre Kaltbrunner Schützlinge auf. Die meisten Schüler blättern zielstrebig zur Seite 34, einige werfen ver- stohlene Blicke zum Nachbarn.
Nach einem Dreivierteljahr Französisch zeigen sich bereits gewisse Unterschiede im Niveau der Fünftklässler. Gerade bei den Schwächeren schlägt sich das teilweise in der Motivation nieder.
«Als wir mit dem Französisch anfingen, hatten die Schüler sehr viel Freude, weil alle schnell Fortschritte machten», sagt Désirée Steiner. «Mittlerweile flacht es schon etwas ab.»
Das Sprachenlernen auch mal schwierig und mühsam sein könne, widerspiegle aber letztlich die Realität. «Unsere Aufgabe ist es, den Kindern zu zeigen, wie man damit umgehen kann.»



Berset droht mit Machtwort (Box1)
Englisch sowie eine zweite Landessprache für alle Primarschüler ab dem dritten und fünften Schuljahr. So sah es ein Beschluss der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) im Jahr 2004 vor. Allerdings ist die Vorgabe nach wie vor nicht in allen Kantonen umgesetzt. Zudem herrscht ein beträchtlicher sprachlicher Flickenteppich. In 14 Kantonen ist Englisch die erste Fremdsprache (darunter St. Gallen), in 12 ist es eine Landessprache. Der zuständige Bundesrat Alain Berset hat deshalb gedroht, den Unterricht einer zweiten Landessprache in der Primarschule durchzusetzen. Als Vertreter der Romandie sieht er nichts weniger als den nationalen Zusammenhalt in Gefahr. Als Grundlage dient ihm das Sprachengesetz und der Bildungsartikel, den 2006 über 85 Prozent der Stimmenden angenommen haben. Dieser verpflichtet die Kantone, die Bildungsinhalte der obligatorischen Schule zu harmonisieren. Ist dies bis 2015 nicht erreicht, greift der Bund ein. (pb)

Warums Die Schweden besser können (Box2)
Die Schweden sind die Nummer 1, was das Beherrschen von Englisch als Fremdsprache angeht. Sowohl eine Studie der EU-Kommission in 14 europäischen Ländern als auch eine der sprachschule EF in weltweit 60 Ländern mit fünf Millionen Erwachsenen kam zu diesem Ergebnis. auf Platz 2 folgt Norwegen, Bronze geht an Holland. Die Schweiz ist nur Mittelmass. Sprachlehrer Urs Kalberer überrascht diese Reihenfolge nicht. Hauptgrund ist für ihn das Fernsehen. Anders als im grossen deutschsprachigen Raum werden Filme und Serien kaum je auf Schwedisch, Norwegisch oder Holländisch synchronisiert, sondern nur untertitelt. Kinder und Jugendliche haben so neben dem Schulunterricht Hunderte bis Tausende Stunden Kontakt mit Englisch. «Das wäre auch bei uns die beste Sprachförderung», ist Kalbe- rer überzeugt, «und praktisch gratis zu haben». Dass schwedische Schüler nicht grundsätzlich besser sind, zeigt die Pisastudie. Sowohl im Lesen wie auch im Rechnen und in den Naturwissenschaften liegt das skandinavische
Land klar hinter der Schweiz. (pb)

Kommentar
Im Zentrum muss die pädagogische Frage stehen

Debatten um Sprache und Identität kennt die Schweiz seit der Gründung des Bundesstaates. Jüngst geht es um die Frage, ob bereits in der Primarschule zwei Fremdsprachen unterrichtet werden sollen – wie dies in St. Gallen seit bald sechs Jahren der Fall ist.

In Sieben Deutschschweizer Kantonen laufen Vorstösse oder Volksinitiativen mit dem Ziel, die zweite Fremdsprache wieder aus der Primarschule zu kippen. Infrage gestellt wird dabei nicht Frühenglisch, sondern Französisch. Vertreter der Romandie, zuvorderst Bundesrat Alain Berset, sehen deswegen den nationalen Zusammenhalt in Gefahr.

Wohl und Wehe der Nation sollen also davon abhängen, ob man in der Primarschule oder erst auf der Sekundarstufe Französisch lernt? Bei allem Verständnis für die Symbolwirkung politischer Entscheide: Das ist weit hergeholt. Und lenkt von der weit wichtigeren Debatte ab.


Im Zentrum muss die Frage stehen, ob der Unterricht von Fremdsprachen in der heutigen Form auf der Primarstufe päda- gogisch Sinn macht. Dabei ist nicht nur die Frage nach der Überforderung der Schüler zu klären. Sondern vor allem, ob sie am Ende der Schulzeit einen Nutzen davontragen. Hier sind Experten und Politiker gefordert, gesicherte Antworten zu liefern.

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