26. April 2014

Wacklige Argumente der Mundart-Gegner

Im Kanton Aargau steht eine Abstimmung über die Mundart im Kindergarten bevor. Leider ist es den Initianten nicht gelungen, ein breit abgestütztes Komitee zu mobilisieren. Die Erfolgsaussichten der Initiative, die im Kindergarten grundsätzlich Mundart verlangt, sind deshalb gering. Doch die Spannung dürfte nun durch einen Artikel von Hans Fahrländer steigen. Die Hochdeutsch-Promotorin Mathilde Gyger von der FHNW selbst macht widersprüchliche Aussagen über den Nutzen des Hochdeutschen im Kindergarten.



Kalberer: "Der Vorteil von Kindergarten-Hochdeutsch verpufft wieder"

Sprachwissenschaftler kontert FHNW-Professorin mit ihrer eigenen Studie, Aargauer Zeitung, 26.4. von Hans Fahrländer


«Das ist pikant!», sagt Urs Kalberer, Lehrer und Sprachdidaktiker aus Malans. Er hat herausgefunden: «Mathilde Gyger von der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, dievor zwei Wochen in der az den ablehnenden Standpunkt der Sprachdidaktik zur Mundart-Initiative formuliert hat, musste selber feststellen, dass der Einsatz von Hochdeutsch im Kindergarten auf den Zweitsprachenerwerb und auf den Erfolg in der Schule kaum Einfluss hat.» Der Aargau stimmt am 18. Mai über die Initiative «Ja für Mundart im Kindergarten» der Schweizer Demokraten ab.
«Geringfügige Vorteile»
Gefunden hat der kämpferische Lehrer den Befund in der Studie «Projekt Standardsprache im Kindergarten, Basel 2005» von Mathilde Gyger. Kalberer zitiert: «Es ist festzuhalten, dass die Standardsprache gegenüber der Mundart im Kindergarten für den Schulerfolg und für den Zweitspracherwerb an sich geringfügige Vorteile bringt.»
Und: «Weder beim Ausbau des aktiven Wortschatzes noch bei der Grammatik weisen die Ergebnisse auf eine positive Auswirkung der Varietät Standardsprache auf den Zweitspracherwerb an sich hin.»
Auf den Einwurf, die Studie sei neun Jahre alt, seither habe man mehr Erfahrungen sammeln können, kontert Kalberer: «Das ist heute sicher nicht ganz anders. Zudem hat Frau Gyger damals Kindergärten mit 100 % Mundart und mit 100 % Hochdeutsch verglichen. Nimmt man die 30 %, die in Aargauer Kindergärten gelten sollen, wird der angebliche Vorteil des Hochdeutschgebrauchs noch geringer. Die 30 % entsprechen einer tatsächlichen Unterrichtszeit von fünf Stunden pro Woche. Viel zu wenig für einen messbaren Effekt.»
Pisa-Beweis: «Unsinnig»
Urs Kalberer erinnert daran, dass der Kanton Zürich 2011 einer ähnlichen Initiative, wie sie jetzt im Aargau an die Urne kommt, zugestimmt hat. Er selber war im Unterstützungskomitee aktiv. Basel-Stadt hat ein analoges Begehren 2011 hauchdünn verworfen. Im September 2013 hat der Kanton Luzern eine Mundart-Initiative deutlich abgelehnt.
Der Unterschied laut Kalberer: «In Zürich und Basel war das Initiativkomitee breit abgestützt, in Luzern war es einseitig rechtsbürgerlich, das minderte seine Chancen. Das ist jetzt auch im Aargau so, ich bin deshalb nicht allzu optimistisch. Ich verstehe allerdings nicht, was diese Frage mit links und rechts zu tun hat. Auch Mitte-Parteien sollten genau hinschauen, bevor sie Parolen ausgeben.»
Die Einführung von Hochdeutsch im Kindergarten geht auf den «Pisa-Schock» aus dem Jahr 2000 zurück. Schweizer Jugendliche belegten damals im Lesen und Textverständnis höchst durchschnittliche Punktzahlen. In den folgenden Pisa-Tests verbesserte sich die Leseleistung messbar. Eine Erfolgsgeschichte.
Kalberer enerviert sich: «Dass zwischen Pisa und Hochdeutsch im Kindergarten ein Zusammenhang bestehen soll, ist Unsinn. Den Pisa-Test machen 15-Jährige beim Schulabschluss. Wenn man bei den nächsten Pisa-Tests drei oder sechs Jahre später bessere Leseleistungen misst, hat das mit dem Kindergarten überhaupt nichts zu tun!»
Hochdeutsch gehört in die Schule
Kalberer ist überzeugt: «Das Erlernen und der korrekte Gebrauch der Standardsprache gehören in die Schule. Und da hat es durchaus noch Verbesserungspotenzial, wenn man bedenkt, dass 16 Prozent der Schulabgänger in Lesen und Textverständnis kaum das unterste Pisa-Niveau erreichen.
Der Vorteil von Kindergarten-Hochdeutsch, wenn es ihn überhaupt gibt, verpufft bereits in den ersten Schuljahren wieder. Mich wundert das nicht, denn Lesen und Schreiben sind etwas ganz anderes als blosses Reden, wie es im Kindergarten praktiziert wird.»
Schadet der Integration
Was sagt Kalberer zu Mathilde Gygers These, der Gebrauch der überregional gültigen Standardsprache helfe den vielen Kindern mit nichtdeutscher Erstsprache bei der Integration? «Das Gegenteil ist der Fall! Es ist ganz wichtig, dass fremdsprachige Kinder im Kindergarten korrekt Mundart lernen. Sie lernen es sonst nie mehr. Geschieht das nicht, behalten sie ihren fremdsprachlich bedingten Akzent ihr Leben lang. Und werden dadurch stigmatisiert.»
Urs Kalberers Fazit: «Wir Schweizer haben einen Komplex. Wir glauben, unsere Mundart sei minderwertig, deshalb müsse man möglichst früh Hochdeutsch lernen. Man stelle sich vor, in einem Kindergarten in Innsbruck werde an einem oder zwei Tagen pro Woche Hochdeutsch statt Tiroler Dialekt gesprochen – undenkbar! Man gebraucht dort die Mundart selbstbewusst und lässt sich mit dem Erlernen der Standardsprache Zeit.»

An der PH nicht erwünscht
Urs Kalberer ist ausgebildeter Sekundarlehrer. Er hat in Manchester (GB) einen «Master of Education» in Sprachwissenschaft erworben. Sein Spezialgebiet ist der frühe Fremdsprachenerwerb.
Er gibt sein sprachdidaktisches Wissen an mehreren Instituten weiter - «aber nicht an Pädagogischen Hochschulen», wie er betont. «Dort bin ich nicht erwünscht.»
Kalberer ist überzeugt, dass abweichende Meinungen zu modischen Schulreformen - eben zum Beispiel die Primarschulfremdsprachen oder das Kindergarten-Hochdeutsch - von der offiziellen Lehre und Forschung in der Schweiz bewusst geschnitten und ausgegrenzt werden.


«Nicht alles Moderne ist nachhaltig. Das sollten sich auch die euphorischen Reformer unserer Sprachenpolitik und -didaktik bewusst sein.» (FA)

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