Kalberer: "Der Vorteil von Kindergarten-Hochdeutsch verpufft wieder"
Sprachwissenschaftler kontert FHNW-Professorin mit ihrer eigenen Studie, Aargauer Zeitung, 26.4. von Hans Fahrländer
«Das ist pikant!», sagt Urs Kalberer, Lehrer und Sprachdidaktiker aus Malans. Er hat herausgefunden: «Mathilde Gyger von der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, dievor zwei Wochen in der az den ablehnenden Standpunkt der Sprachdidaktik zur Mundart-Initiative formuliert hat, musste selber feststellen, dass der Einsatz von Hochdeutsch im Kindergarten auf den Zweitsprachenerwerb und auf den Erfolg in der Schule kaum Einfluss hat.» Der Aargau stimmt am 18. Mai über die Initiative «Ja für Mundart im Kindergarten» der Schweizer Demokraten ab.
«Geringfügige Vorteile»
Gefunden hat der
kämpferische Lehrer den Befund in der Studie «Projekt Standardsprache im
Kindergarten, Basel 2005» von Mathilde Gyger. Kalberer zitiert: «Es ist
festzuhalten, dass die Standardsprache gegenüber der Mundart im Kindergarten
für den Schulerfolg und für den Zweitspracherwerb an sich geringfügige Vorteile
bringt.»
Und: «Weder beim Ausbau des
aktiven Wortschatzes noch bei der Grammatik weisen die Ergebnisse auf eine
positive Auswirkung der Varietät Standardsprache auf den Zweitspracherwerb an
sich hin.»
Auf den Einwurf, die Studie
sei neun Jahre alt, seither habe man mehr Erfahrungen sammeln können, kontert
Kalberer: «Das ist heute sicher nicht ganz anders. Zudem hat Frau Gyger damals
Kindergärten mit 100 % Mundart und mit 100 % Hochdeutsch verglichen.
Nimmt man die 30 %, die in Aargauer Kindergärten gelten sollen, wird der
angebliche Vorteil des Hochdeutschgebrauchs noch geringer. Die 30 %
entsprechen einer tatsächlichen Unterrichtszeit von fünf Stunden pro Woche.
Viel zu wenig für einen messbaren Effekt.»
Pisa-Beweis: «Unsinnig»
Urs Kalberer erinnert
daran, dass der Kanton Zürich 2011 einer ähnlichen Initiative, wie sie jetzt im
Aargau an die Urne kommt, zugestimmt hat. Er selber war im
Unterstützungskomitee aktiv. Basel-Stadt hat ein analoges Begehren 2011
hauchdünn verworfen. Im September 2013 hat der Kanton Luzern eine
Mundart-Initiative deutlich abgelehnt.
Der Unterschied laut
Kalberer: «In Zürich und Basel war das Initiativkomitee breit abgestützt, in
Luzern war es einseitig rechtsbürgerlich, das minderte seine Chancen. Das ist
jetzt auch im Aargau so, ich bin deshalb nicht allzu optimistisch. Ich verstehe
allerdings nicht, was diese Frage mit links und rechts zu tun hat. Auch
Mitte-Parteien sollten genau hinschauen, bevor sie Parolen ausgeben.»
Die Einführung von
Hochdeutsch im Kindergarten geht auf den «Pisa-Schock» aus dem Jahr 2000
zurück. Schweizer Jugendliche belegten damals im Lesen und Textverständnis
höchst durchschnittliche Punktzahlen. In den folgenden Pisa-Tests verbesserte
sich die Leseleistung messbar. Eine Erfolgsgeschichte.
Kalberer enerviert sich:
«Dass zwischen Pisa und Hochdeutsch im Kindergarten ein Zusammenhang bestehen
soll, ist Unsinn. Den Pisa-Test machen 15-Jährige beim Schulabschluss. Wenn man
bei den nächsten Pisa-Tests drei oder sechs Jahre später bessere Leseleistungen
misst, hat das mit dem Kindergarten überhaupt nichts zu tun!»
Hochdeutsch gehört in die
Schule
Kalberer ist überzeugt:
«Das Erlernen und der korrekte Gebrauch der Standardsprache gehören in die
Schule. Und da hat es durchaus noch Verbesserungspotenzial, wenn man bedenkt,
dass 16 Prozent der Schulabgänger in Lesen und Textverständnis kaum das
unterste Pisa-Niveau erreichen.
Der Vorteil von
Kindergarten-Hochdeutsch, wenn es ihn überhaupt gibt, verpufft bereits in den
ersten Schuljahren wieder. Mich wundert das nicht, denn Lesen und Schreiben
sind etwas ganz anderes als blosses Reden, wie es im Kindergarten praktiziert
wird.»
Schadet der Integration
Was sagt Kalberer zu
Mathilde Gygers These, der Gebrauch der überregional gültigen Standardsprache
helfe den vielen Kindern mit nichtdeutscher Erstsprache bei der Integration?
«Das Gegenteil ist der Fall! Es ist ganz wichtig, dass fremdsprachige Kinder im
Kindergarten korrekt Mundart lernen. Sie lernen es sonst nie mehr. Geschieht
das nicht, behalten sie ihren fremdsprachlich bedingten Akzent ihr Leben lang.
Und werden dadurch stigmatisiert.»
Urs Kalberers Fazit: «Wir
Schweizer haben einen Komplex. Wir glauben, unsere Mundart sei minderwertig,
deshalb müsse man möglichst früh Hochdeutsch lernen. Man stelle sich vor, in
einem Kindergarten in Innsbruck werde an einem oder zwei Tagen pro Woche
Hochdeutsch statt Tiroler Dialekt gesprochen – undenkbar! Man gebraucht dort
die Mundart selbstbewusst und lässt sich mit dem Erlernen der Standardsprache
Zeit.»
An der PH nicht erwünscht
Urs Kalberer ist ausgebildeter
Sekundarlehrer. Er hat in Manchester (GB) einen «Master of Education» in
Sprachwissenschaft erworben. Sein Spezialgebiet ist der frühe
Fremdsprachenerwerb.
Er gibt sein sprachdidaktisches Wissen an
mehreren Instituten weiter - «aber nicht an Pädagogischen Hochschulen», wie er
betont. «Dort bin ich nicht erwünscht.»
Kalberer ist überzeugt, dass abweichende
Meinungen zu modischen Schulreformen - eben zum Beispiel die
Primarschulfremdsprachen oder das Kindergarten-Hochdeutsch - von der
offiziellen Lehre und Forschung in der Schweiz bewusst geschnitten und
ausgegrenzt werden.
«Nicht alles Moderne ist nachhaltig. Das
sollten sich auch die euphorischen Reformer unserer Sprachenpolitik und
-didaktik bewusst sein.» (FA)
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