25. Juni 2014

Blindflug bei den Fremdsprachen

Getrieben von der Angst, das Französische könnte aus der Primarschule verschwinden, entstand ein Artikel, der die Argumente der Frühfremdsprachler zusammenfasst. Natürlich ist dabei die Auswahl und die Interpretation der Quellen manipulativ. Die erwähnten Forschungsarbeiten sind alles andere als Freipässe für frühen Fremdsprachenunterricht. Selbstredend bedauern die Verfasser - alle aus dem Fachbereich Französisch dreier PH stammend - die Emotionalität der Debatte. Besonders verzweifelt scheint mir das Argument zu sein, wonach Französisch in manchen Berufen im Dienstleistungssektor ebenso oft gebraucht werde wie Englisch. Der Text ist dennoch lesenswert, besonders wenn er vor dem "dramatischen Rückschritt" warnt, der mit einer Verlegung von Französisch an die Oberstufe erfolgte. (uk) 




Christine La Pape Racine will herausfinden, in welchen Bereichen Anpassungen notwendig sind, Bild: FHNW

Genauer hinsehen beim Fremdsprachenunterricht, NZZ, 25.6. von Giuseppe Manno, Christine Le Pape Racine und Mirjam Egli Cuenat


Geht es um die Frage, ob an der Primarschule zwei Fremdsprachen unterrichtet werden sollen, werden meist Meinungen geäussert, die bereits seit den 1970er Jahren gegen die Einführung von Frühfranzösisch vorgebracht wurden. Inzwischen liegen jedoch im In- und Ausland zahlreiche Studien zu diesem Thema vor. Die Umsetzung der Fremdsprachenreform ist weit davon entfernt, im Blindflug stattzufinden, wie dies zuweilen unterstellt wird. Seit den 1970er Jahren findet eine Demokratisierung des Fremdsprachenunterrichts statt. Davor setzte der Französischunterricht erst in der Oberstufe und nur für Schüler und Schülerinnen im höchsten Niveau ein, Englisch war in der Regel fakultativ. Dass die Fremdsprachenpolitik der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) seit 1975 nachhaltig wirkt, zeigte eine Nationalfondsstudie der Universität Bern. Die Schweizer Wohnbevölkerung verfügt im Durchschnitt über Kompetenzen in zwei Fremdsprachen und gehört damit zu den europäischen Spitzenreitern; diese Sprachen werden überwiegend in der Schule erlernt.
Nicht überfordert
Die Schweiz folgt dem europäischen Trend, mit dem Fremdsprachenunterricht früher zu beginnen. Die Gegner des frühen Fremdsprachenunterrichts meinen, dass Sekundarschüler/-innen den mehrjährigen Stoff der Primarschule schnell aufholen können. Die zwei grossangelegten internationalen Vergleichsstudien Ellie und ESLC zeigen hingegen, dass ein früherer Beginn im Durchschnitt zu besseren Leistungen und höherer Motivation führt. Die grosse Mehrheit der Kinder ist durch zwei Fremdsprachen nicht überfordert und erfüllt die Mindestansprüche gemäss Lehrplan. Dies wies 2009 eine Studie der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz nach, die auch zeigte, dass die Kinder mit vorangehendem Englischunterricht in Französisch am Ende der 5. Klasse im Hören und Lesen besser als diejenigen ohne Englisch abschneiden. Am Ende der 6. Klasse wiesen sie beim Französischsprechen höhere Kompetenzen aus als die Lernenden ohne Frühenglisch. Die Studie zeigte auch, dass das Lernen anderer Sprachen nicht zulasten des Deutschen geht.
Ein häufiges Argument gegen zwei Fremdsprachen ist der hohe Anteil von Fremdsprachigen in Schweizer Schulen, der 2011/12 gemäss Bundesamt für Statistik bei 27,3 Prozent lag. Diese seien mit dem Fremdsprachenlernen überfordert. Studien im In- und Ausland widerlegen dies mehrfach. Die soeben erwähnte Studie weist in gewissen Bereichen sogar besseres Abschneiden von Migrantenkindern auf. Ebenso zeigen eine neue Studie der Pädagogischen Hochschule Thurgau und die deutsche Desi-Studie: Kinder mit Migrationshintergrund schneiden im Englischunterricht gleich gut ab wie Deutschsprachige. Oft ist ihre Motivation für das Lernen zweier Fremdsprachen sogar höher als die der Deutschsprachigen, wie eine Studie im Kanton Zürich in 5. und 6. Primarschulklassen zeigte.
Die Frage ist daher nicht, ob zwei Fremdsprachen in der Primarschule eingeführt werden sollen, sondern wie diese zu unterrichten sind. Primarschulkinder lernen anders, was beim Anschluss an die Sekundarschule zu berücksichtigen ist. Bei der Beurteilung stehen heute nicht die Fehler, sondern die vorhandenen Kompetenzen im Vordergrund. Um die Lernmotivation aufrechtzuerhalten, gilt es deshalb, stufengerechte Beurteilungsinstrumente anzuwenden. Ohne auf gezieltes Vokabel- und Formenlernen zu verzichten, unterstützen moderne Lehrmittel die Lernenden und die Lehrpersonen beim Brückenbau zwischen den Sprachen, vermitteln altersgerechte Inhalte und helfen beim Aufbau eines Sprachbades (Immersion) im Klassenzimmer. Die erwähnte Desi-Studie weist nach, dass Letzteres sehr effizient ist. Diese Ergebnisse werden im helvetischen Kontext bestätigt.
Verzicht auf Französisch als Rückschritt
Die Pädagogischen Hochschulen St. Gallen und der Nordwestschweiz erforschen gemeinsam, wie sich die Kompetenzen beim Lesen, Schreiben und Sprechen in Französisch, Englisch und Deutsch am Stufenübergang von der Primar- zur Sekundarstufe I im reformierten Fremdsprachenunterricht entwickeln. Es wird dabei untersucht, wie sich individuelle Lernvoraussetzungen auf diese Kompetenzen auswirken, welchen Einfluss die eingesetzte Didaktik ausübt und wie sich die verlängerte Lernzeit in der ersten Fremdsprache im Spracherwerb niederschlägt. Diese und weitere wissenschaftliche Untersuchungen werden in den kommenden Jahren zeigen, was sich bewährt und in welchen Bereichen Anpassungen notwendig sind.
Französisch gilt, im Gegensatz zu Englisch, vor allem im Anfängerstadium wegen der Formenvielfalt, als schwer zugänglich. Wird der Unterricht in der Landessprache reduziert und in der Oberstufe nicht mehr allen Lernenden angeboten, zementieren sich Vorurteile, die durch einen frühen Einstieg abgefedert werden können. Ohne Französisch bleiben gerade den schulisch Leistungsschwächeren wichtige Berufsmöglichkeiten verwehrt. Zwei Schweizer Studien mit Bezug zu Demografie und Bildungsökonomie zeigen, dass in manchen nichtakademischen Berufen, zum Beispiel im Dienstleistungssektor, die zweite Landessprache ebenso oft gebraucht wird wie Englisch und die Kenntnis von zwei Landessprachen plus Englisch im Schnitt zu einem höheren Lohn führt.
Noch ist die investitionsreiche Sprachenreform in den wenigsten Kantonen ganz umgesetzt. Französisch aus der Primarstufe zu verbannen, käme nicht nur pädagogisch, sondern auch sprachpolitisch und ökonomisch einem dramatischen Rückschritt gleich. Wenn jetzt Bilanz gezogen wird, dann um genauer hinzusehen und die Lehrpersonen bei ihrer wichtigen Arbeit noch besser zu unterstützen.

Giuseppe Manno ist Professor für Didaktik der romanischen Sprachen und ihre Disziplinen an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz; Christine Le Pape Racine ist ebendort Professorin für Französischdidaktik und ihre Disziplinen; Mirjam Egli Cuenat ist Professorin am Institut Fachdidaktik Sprachen - Sekundarstufe I der Pädagogischen Hochschule St. Gallen.

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