14. Juli 2014

Chassot zu den Primarfremdsprachen

Die ehemalige EDK-Präsidentin und jetzige Direktorin des Bundesamts für Kultur, Isabelle Chassot (CVP), gibt in einem Interview ihr grundsätzliches Einverständnis mit der momentanen Sprachenstrategie zum Ausdruck. Sie interpretiert zwei Fremdsprachen an der Primarschule beispielsweise als "verfassungsmässigen Auftrag". Die unterschiedlichen Sprachenkonzepte in den Kantonen sind für Chassot kein Hindernis für die Mobilität, denn die EDK habe ja entsprechende Bildungsstandards definiert.




Chassot: "Ich habe noch keinen erwachsenen Deutschschweizer getroffen, der die Standardsprache nicht beherrscht". Bild: Keystone

"Das Beispiel Belgien zeigt uns, was passieren kann", Berner Zeitung, 13.7. von Christoph Aebischer


Weil einige Kantone Französisch an der Primarschule infrage stellen, rief eine Zeitung den Sprachenkrieg aus. Isabelle Chassot, sind Romands dünnhäutig?Isabelle Chassot: Die Romands reagieren nicht, weil sie dünnhäutig sind, sondern weil sie damit ihre Sorge um den Platz einer Minderheit in der Schweiz ausdrücken und an die Bedeutung des nationalen Zusammenhalts erinnern. Das Wort Krieg fand ich selber zu stark. Man hat es hier wohl gewählt, um ein berechtigtes Anliegen vorzubringen.
Prominente wie Pascal Couchepin oder Christophe Darbellay bliesen ins selbe Horn. Was wollen sie damit bezwecken? Das müssen Sie sie selber fragen. In der Romandie aber existiert ein grosses Einvernehmen, dass die Landessprachen für das gegenseitige Verständnis in der Schweiz wichtig ist. Der Bundesrat hat es übrigens auch in parlamentarischen Antworten unterstrichen: Für den nationalen Zusammenhalt ist es wichtig, dass die Landessprachen präsent bleiben, gesprochen und an den Schulen vermittelt werden. Denn es geht auch darum, einander zu verstehen.
Ihr Nachfolger als Präsident der kantonalen Erziehungsdirektoren, Christoph Eymann, hat sogar Belgien als Szenario bemüht, wo die Sprachregionen sich auseinandergelebt haben. Droht dies der Schweiz? Die Schweiz ist vielschichtiger, und das ist auch ihre Chance. Belgien ist unterteilt in eine Mehrheit und eine Minderheit. In der Schweiz gibt es verschiedene Minderheiten; neben den Sprachregionen schaffen etwa Religionen oder die Differenz zwischen Stadt und Land solche Gruppen. Man befindet sich immer in der Minderheit zu jemand anderem. Die Situation ist also nicht direkt vergleichbar, aber das Beispiel Belgien zeigt uns, was geschieht, wenn eine Sprache nicht mehr wahrgenommen wird.
Bundesrat Alain Berset will das nicht hinnehmen. Bedeutet das, er wird die zweite Landessprache an der Primarschule verordnen? Es ist nicht nur Alain Berset, der sich geäussert hat, sondern der Gesamtbundesrat, der auf die in der Verfassung verankerten Grundsätze aufmerksam gemacht hat. Er rief seine Aufgabe in Erinnerung, nötigenfalls korrigierend aktiv zu werden. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn der Unterricht einer zweiten Landessprache an der Primarschule in einzelnen Kantonen gestrichen würde.
Ein solches Machtwort würde dem nationalen Zusammenhalt doch auch Schaden zufügen? Nein. Es ginge ja nicht um ein Machtwort, sondern um einen verfassungsmässigen Auftrag. Ich bin überzeugt, dass dies den Zusammenhalt stärken würde. Bis jetzt hat jedoch noch keine Kantonsregierung die Sprachenstrategie infrage gestellt. Es herrscht Konsens darüber, dass der Fremdsprachenunterricht früh beginnen muss und dass dies auch für eine zweite Landessprache zutrifft. Anderslautende Anliegen kamen bisher stets aus den Parlamenten oder in Form von Volksinitiativen.
Der Kompromiss von 2004, den Sie ansprechen, war eine Zangengeburt. Im Osten der Schweiz beharrte vor allem Zürich auf Englisch als erster Fremdsprache. Die Romandie bot nur Hand, wenn der Französischunterricht ebenfalls in der Primarschule einsetzt. Sie waren damals beteiligt. Erinnern Sie sich? Das war tatsächlich eine schwierige Zeit. Ich war damals Erziehungsdirektorin des Kantons Freiburg. Der Kanton Zürich spielte übrigens auf der Suche nach einer Lösung eine sehr konstruktive Rolle. Dies, indem man es als Chance auffasste – und zwar auch für die Schüler –, in der Primarschule mit zwei Fremdsprachen zu beginnen.
Kritiker des Kompromisses bezweifeln genau dies. Sie sagen, die Schüler seien überfordert. Interessiert Sie das nicht? Bevor der Entscheid fiel, waren alle Facetten einbezogen worden. Die pädagogische Sicht floss demnach mit ein. Es gibt Länder, die viel früher mit dem Sprachunterricht beginnen, zum Beispiel Luxemburg. Ich komme aus einem zweisprachigen Kanton, in dem ebenfalls zwei Fremdsprachen eingeführt werden. Ich sah dort Kinder, die mit Freude lernen. Wir müssen aufpassen, dass wir als Erwachsene nicht auf die jetzige Schule projizieren, wie wir selber Fremdsprachen gelernt haben. Die heutigen Unterrichtsmittel sind spannender aufgebaut und die Didaktik ans Alter der Kinder angepasst.
Die Einwände stammen von Lehrern. Liegen sie alle falsch? Mich würde interessieren, was für eine Lösung diese Lehrer als Alternative sehen. Ich frage mich, ob vielleicht eher sie mit dem Vermitteln der Fremdsprache ein Problem haben.
Wegen mangelnder Kenntnisse? Nein, ich unterschätze die Aufgabe der Lehrpersonen nicht. Ich frage mich, ob sie zu dieser Ansicht kommen, weil sie zu wenig Unterstützung erfahren. Erfolgreicher Sprachunterricht hängt auch von einem ausreichenden Weiterbildungsangebot ab.
Zurück zu den Schülern: Die Schule soll Kinder dazu befähigen, als Erwachsene zu bestehen. Darf man sie missbrauchen, indem man ihnen nationalen Zusammenhalt einpaukt? Ihre Frage erstaunt mich. Das Vermitteln einer Landessprache ist in keiner Weise ein Missbrauch. Kinder erhalten so mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt. 95 Prozent der Angestellten in der Schweiz arbeiten für KMUs, viele davon in der Binnenwirtschaft. Dort sind solche Kenntnisse nach wie vor von Nutzen.
Wäre der Bund nicht besser beraten, den Austausch zu fördern, statt den Drohfinger zu erheben? Auch die Unterstützung des Schüleraustausches gehört zu den Aufgaben des Bundes.
Mit welchem Betrag? Aktuell mit einer Million Franken pro Jahr, und es ist in der Kulturbotschaft vorgesehen, diese Summe zu erhöhen. Jeder Austausch bietet die Gelegenheit, sich kennen zu lernen, die Umwelt des Anderssprachigen zu verstehen, und die Chance, mit einer anderen Landessprache in Kontakt zu kommen. Deshalb sehen wir auch vor, Sprachaufenthalte für Lehrer zu unterstützen.
Mit Verlaub, der Betrag ist ein Klacks!
Warum?
Schon nur eine Jahreslektion Unterricht kostet einen Kanton mehrere Millionen Franken. Sie müssen zwischen dem Unterricht, für den die Kantone zuständig sind, und der Unterstützung der Organisation des Austausches unterscheiden. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, müssen Sie die Mittel hinzufügen, welche die Kantone für den Unterricht im interkantonalen Austausch aufwenden. Deshalb unterstützt der Bund auch die Organisation des Austausches, der notabene vor Inkraftsetzung des Sprachengesetzes nicht genügend finanziert war.
Sollten solche Austausche eventuell obligatorisch werden? Es ist nicht an mir, das zu fordern. Dies fällt in den Zuständigkeitsbereich der Kantone. Aber ich sehe die Herausforderung.
Derzeit sind drei Volksinitiativen unterwegs, die nur noch eine Fremdsprache an der Primarschule wollen. Ist das Harmos-Konkordat gescheitert, wenn eine davon angenommen wird? Als Direktorin des Bundesamts für Kultur ist es nicht an mir, diese Frage zu beantworten. Dazu nur so viel: Artikel 62 Absatz 4 der Bundesverfassung verpflichtet die Kantone zur Harmonisierung der Volksschule. Dieses Ziel können sie mittels Konkordat oder durch autonome Entscheidungen erreichen.
In der Verfassung steht nirgends geschrieben, dass bereits in der Primarschule mit zwei Fremdsprachen begonnen werden muss. Der Unterricht in der zweiten Landessprache könnte also auf der Oberstufe einsetzen. Nein. Der erwähnte Artikel verbindet die Harmonisierung mit dem Ziel, die Mobilität zu erleichtern. Er verlangt deshalb, dass am Übergang zur nächsten Stufe – also von der Primarschule in die Oberstufe oder von dort in weiterführende Ausbildungen – gewisse Lernziele erreicht sein müssen. Vier Bereiche – Muttersprache, Mathematik, Wissenschaften und Fremdsprachen – sind bereits von allen Kantonen verabschiedet worden.
Mobilität ohne schulische Hürden ist in der heutigen Situation, in der nicht alle Kantone mit derselben Fremdsprache beginnen, sowieso eine Utopie.Eben nicht. Wie schon gesagt, die Konferenz der Erziehungsdirektoren hat Bildungsstandards mittels Lernzielen definiert, die jeweils zum Ende einer Periode erreicht sein müssen. Sie sind entscheidend für die Mobilität der Familien.
Wie haben Sie als Erziehungsdirektorin eines zweisprachigen Kantons die deutschsprachige Minderheit erlebt? Die deutschsprachige Minderheit im Kanton Freiburg ist wie die französischsprachige Minderheit in der Schweiz. Wir begegneten uns mit Respekt.
Aus dem Wallis, ebenfalls einem Kanton mit frankophoner Mehrheit, hört man was anderes. Da lebt man aneinander vorbei... Zwischen dem Wallis und Freiburg gibt es Unterschiede. Wir haben mit der Stadt Freiburg eine Hauptstadt, die zweisprachig ist und ein gemeinsames Zentrum darstellt. Für die Ausbildung nach der obligatorischen Schule kommen die meisten deutschsprachigen Schüler nach Freiburg. Alle Mittelschulen sind bilingue, auch die Berufsschulen. Die Schulen unternehmen viel, um das Miteinander zu fördern.
Romands verlangen, dass Deutschschweizer Französisch sprechen können. Sie selber reden aber lieber in Ihrer Muttersprache. Woran liegt das? Sind es Minderwertigkeitskomplexe? (spricht plötzlich Deutsch) Da muss ich korrigieren: Romands erwarten, dass sie ihre eigene Sprache sprechen können und trotzdem verstanden werden. Sie wollen als vollwertige, Französisch sprechende Schweizer wahrgenommen werden und verlangen nicht, dass man mit ihnen Französisch spricht. Dafür gibt es die gutschweizerische Übereinkunft, dass in mehrsprachigen Runden jeder seine eigene Sprache spricht. Natürlich müssen Deutschschweizer dann die Standardsprache reden.
Damit kommen wir zu einem weiteren Problem: Hier liege vieles im Argen, sagen Kritiker. Statt vieler Fremdsprachen würden die Schüler gescheiter wieder richtig Hochdeutsch lernen. Ich habe noch keinen erwachsenen Deutschschweizer getroffen, der die Standardsprache nicht beherrscht und sich im Gespräch mit Romands oder Italienischsprachigen geweigert hätte, diese zu sprechen.


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