18. Juli 2014

Gedanken zum altersdurchmischten Lernen

Eine Mutter macht sich ihre Gedanken zum trendigen altersdurchmischten Lernen (AdL), wie es an immer mehr Schulen praktiziert wird. Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass keine der vielen Lehrkräfte damit überfordert ist. 




"Laut Studien sei AdL sehr erfolgreich", Bild: Istockphoto/Getty Images

Wie sollen Kinder heute lernen? Schweizer Illustrierte, 17.7. von Sandra C.


Ich habe eine sehr klassische Schul-Karriere hinter mir. Sechs Jahre Primarschule, Frontalunterricht, Lernen, Noten. Wer nicht genügte, wiederholte die Klasse. Ein Lehrer oder eine Lehrerin, auch fürs Turnen. Ab der 2. Klasse Handarbeit, die Buben Werken, dort eine andere Lehrerin. Wer nicht spurte, bekam auch mal eine gewischt (ich hatte offenbar eine leicht überforderte Handarbeitslehrerin), wer im Unterricht schwatzte, wurde vor die Tür geschickt. Fremdsprachen und verschiedene Lehrer für unterschiedliche Fächer gab es erst ab der Oberstufe. Aber auch im Gymnasium wurde ich bis zur Matura hauptsächlich klassisch frontal unterrichtet, mit normalen Prüfungen und Noten, individuelle Projekte gab es höchstens in Form von Vorträgen.
Meine Kinder kennen diese Art von Schule so nicht. Klassischer Frontalunterricht ist nur ein kleiner Teil ihres Schulalltags. Sie werden in Mathe und Deutsch nach Lehrplänen unterrichtet: Jede Woche oder alle zwei Wochen gibt es einen neuen, mit einem spezifischen Lernziel, den sie individuell in ihrem eigenen Tempo lösen. Wer während des Unterrichts schwatzt oder vor sich hindöst, hat dementsprechend mehr Hausaufgaben. Am Schluss löst jeder für sich einen Test. Noten gibt es in der ersten Klasse noch keine, und auch danach muss nach Möglichkeit niemand eine Klasse wiederholen. Stattdessen gibt es die sogenannte «Integrative Förderung», kurz IF genannt: Eine spezielle Betreuungsperson hat in jeder Klasse die Aufgabe, schwache Schüler zu unterstützen und starke Schüler mit Zusatzaufgaben zu fördern. Meine Kinder lernen ab der 2. Klasse Englisch, aber der 5. Französisch, sie haben jetzt schon mehr Lehrer, als ich zu gewissen Zeiten in der Oberstufe hatte (Schwimm-Lehrer, Musik-Lehrer, Handarbeits-Lehrer, Betreuungspersonen für IF, Team-Teaching oder Randstunden).
Soviel zum Status Quo. Die Schule meiner Kinder geht nun noch einen Schritt weiter. Ab Herbst 2015 führt sie als Pilotprojekt für drei Jahre das sogenannte «ADL» ein, das Altersdurchmischte Lernen. Aus der 1., 2. und 3. Klasse der Grundstufe werden dann drei gemischte Klassen mit 1.-, 2.- und 3.-Klässlern, das selbe gilt für die Mittelstufe (4., 5. und 6. Klasse). Mein Sohn wird dann also als 3.-Klässler zusammen mit 1.- und 2.Klässlern unterrichtet, meine Tochter als 5.-Klässlerin zusammen mit 4.- und 6.-Klässlern. Laut Studien sei diese Form von Unterricht sehr erfolgreich. Das kann schon sein. Ich hoffe einfach, dass - wenn man schon so sehr auf die Individualität jedes Kindes pocht - man auch die nicht ganz einfach zu handhabenden Individuen wie meinen Sohn nicht vergisst. Für ihn ist nämlich das jetzige System schon teilweise eine grosse Herausforderung. Kinder wie er, die ein bisschen mehr Struktur und Grenzen brauchen als andere, denken nicht: «Wenn ich in der Schule vorwärts mache, habe ich nicht mehr so viele Hausaufgaben», sondern «Ach, ich muss ja jetzt nicht unbedingt, da kann ich noch meine Panini-Bildli sortieren.»
Die Gründe, die fürs Altersdurchmischte Lernen sprechen, leuchten mir schon ein. Und für ein Kind wie meine Tochter, das nur gute Noten schreibt, anpassungsfähig und sozial ist, spielt es vermutlich keine grosse Rolle, wie sich ihre Klasse zusammensetzt. Aber eben, da gibt es ja noch den Junior, und was ihn betrifft, schaue ich der Veränderung mehr als skeptisch entgegen. Die Befürworter des Systems sehen folgende Vorteile:
·         Die Sozialkomepetenz der Kinder wird gefördert.
Ich versuche seit fast acht Jahren, die Sozialkompetenz meines Sohnes zu fördern, und bin bisher kläglich gescheitert. Was natürlich übertrieben ist, aber wie genau soll es einen sozialen Einfluss auf ihn haben, wenn die Kinder seiner Klasse nun je nachdem noch ein bisschen älter oder jünger sind als er selbst? Verprügelt er dann als 3.-Klässler die Kleinen und kriegt als 4.-Klässler von den Grösseren auf die Kappe? Nun ja, auch das wäre ja gewissermassen eine soziale Erfahrung.
·         Nicht jedes Kind ist gleich weit, niemand soll unter- oder überfordert werden.
Genau das wird ja mit der Integrativen Förderung bereits heute praktiziert. Oder soll das heissen, dass ein 2.-Klässler, der gut in Mathe und schlecht in Deutsch ist, in ersterem den 3.-Klass-Stoff absolviert, und in letzterem den 1.Klass-Stoff? Aber Ende 6. Klasse müssen dann doch alle wieder gleich weit sein?
·         Die Kinder sollen durch individuelles Arbeiten und Lernen selbstständiger werden.
Auch das wird mit den Lehrplänen bereits praktiziert. Und ich finde schon heute, dass hier von 7- oder 8-Jährigen sehr viel Selbstständigkeit erwartet wird. Mein Sohn könnte vermutlich das gesamte Panini-Album vom ersten bis zum letzten Spieler auswändig aufsagen, hat aber des Öfteren keine Ahnung, was er für Hausaufgaben hat. So viel zum Thema Selbstständigkeit.
·         Die Interessen der Kinder werden mehr beachtet.
Heisst das, er darf den ganzen Tag Fussball und Klavier spielen und Paninibildli sortieren? Er wird es lieben!

Versteht mich nicht falsch, ich finde Optimierungen im Schulsystem grundsätzlich gut und bin sicher, dass diese immer mit den besten Absichten passieren. Nur werde ich das Gefühl nicht los, dass das ständige Rumgeschraube - Stichwort Lehrplan 21 - auf dem Rücken der Kinder passiert. Vorerst drei Jahre lang sollen meine Kinder also altersdurchmischt unterrichtet werden. Als Versuchskaninchen sozusagen. Mein Sohn wird dann in der Primarschule zwei Jahre in Regelklassen verbracht haben, drei Jahre altersdurchmischt und - falls man zum Schluss kommt, dass das doch nicht hinhaut - nochmal ein Jahr in der Regelklasse. Dabei wird er unzählige Lehrer und Lehrerinnen erlebt haben, und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass keiner von denen damit überfordert ist, drei Klassen parallel zu unterrichten.
Ich habe mich übrigens kürzlich einen Abend lang mit einer Pädagogin über das Thema unterhalten. Sie meinte abschliessend: «Vermutlich kommt man irgendwann zum Schluss, dass die Art und Weise, wie wir früher unterrichtet wurden, gar nicht die Schlechteste war.» So weit würde ich nicht gehen. Trotzdem hoffe ich, dass meine Kinder in dem ganzen Wirrwarr zwischen Leistungsdruck und Individualität ihren Weg finden, und als selbstständige junge Leute in die Erwachsenenwelt «entlassen» werden.


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