21. August 2014

Thurgauer Fremdsprachenentscheid war breit abgestützt

Entgegen der Meinung der Westschweizer Medien war der Thurgauer Fremdsprachenentscheid keine SVP-Machtdemonstration. Er war breit abgestützt und kam gegen den Willen von Erziehungsdirektorin Monika Knill (SVP) zustande. In seinem Artikel schildert der Thurgauer Journalist Markus Schär die von ideologischen und erpresserischen Zügen durchtränkte Argumentation der Frühfremdsprachler.




"Fichez-nous la paix", lasst uns in Ruhe.

Sprachenstreit: "ça suffit", Weltwoche, 21.8. von Markus Schär



Jetzt gelte ich selbst unter den Scheuklappen-Schweizern als Hinterwäldler. Ich lernte an der Sekundarschule in Weinfelden und an der Kantonsschule in Frauenfeld (das ist die Hauptstadt des Kantons Thurgau, wie nur wenige Freundeidgenossen wissen) sechseinhalb Jahre Französisch. Mein Maturazeugnis zierte eine Sechs, weil ich alles Nötige über die Grammatik und die Literatur der Sprache von Racine, ­Molière und Marquis de Sade wusste; ich kann allerdings bis heute kein Telefonat auf Französisch führen, weil es nicht in mein alemannisches Maul passt. Mit dem directeur romand von Avenir Suisse, einem Diplomaten der Schweizerischen Eidgenossenschaft, oder dem Präsidenten der ETH Lausanne, einem Freiburger, ­pardon: Fribourgeois, sprach ich immer Englisch, damit wir uns verstanden.
Aber eben, seit letzter Woche sprechen mir die compatriotes nicht nur die Französischkenntnisse, sondern sogar jede Verständigungsbereitschaft ab. Unter mehreren Deutschschweizer Kantonen, in denen Vorstösse laufen, das Frühfranzösisch in der Primarschule wieder abzuschaffen und dafür den ­Unterricht in der Sekundarschule auszubauen, entschied zufällig im Thurgau das Parlament zuerst. Es überwies mit 71 gegen 49 ­Stimmen eine SVP-Motion – gegen Erziehungschefin Monika Knill (SVP). Die SVP stellt im Thurgau zwar die mit Abstand grösste Fraktion, aber diese zählt nur 41 Mitglieder. Auf eine Mehrheit kam der Vorstoss im 130-köpfigen Rat, weil ihn Parlamentarier fast aller Parteien mittrugen: von FDP, CVP/GLP, EDU/EVP, sogar der SP und der geschlossenen Fraktion der Grünen. Viele Lehrkräfte sprechen sich dafür aus; eine Studie der Pädagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen (au lac de Constance, rechts oben auf der Landeskarte) zeigt, dass Frühfranzösisch nichts bringt.
«Die Abriegelung der Schweiz»
Ohne sich um störende Fakten zu scheren, zog Nationalrat Roger Nordmann (SP) über den Thurgau her. «Ich werde den Verdacht nicht los, dass die SVP mit dem Kampf gegen Frühfranzösisch noch viel mehr bezweckt: eine monokulturelle deutsche Schweiz», unkte der ­Vaudois im Tages-Anzeiger: «Dass es ihr auch darum geht, die Abriegelung der Schweiz voranzu­treiben.» Er rief deshalb die Thurgauer Eltern dazu auf, Frühfranzösisch vor Bundesgericht zu ­erzwingen: «Bildung eines Grundrechts» (mit Aufnahme in die EMRK?).
Die Waadtländer Erziehungschefin Anne-­Catherine Lyon (SP) hetzte gegen den Thurgau, der sich «isoliere». Der Aargauer Nationalrat Cédric Wermuth (SP) höhnte auf dem ihm eigenen Niveau, man solle einen Monat lang die Thurgauer Äpfel boykottieren, bis das Parlament kippe. Und Bundesrat Alain Berset (SP) drohte einmal mehr, der Bund könne in die ­Bildungshoheit der Kantone eingreifen – ­obwohl es in Bundesverfassung und Sprachengesetz dafür keine Grundlage gibt. Die ­Genossen fordern also – in verdankenswerter Unverfrorenheit –, die Freundeidgenossen sollten mit den Thurgauern umgehen wie die EU mit der Schweiz: beschimpfen und bedrohen, das Recht beugen und den Volkswillen brechen.
Ich arbeite jetzt im Medienzentrum in Bundesbern, einem der Bollwerke der eidgenössischen Verständigung nach dem Grundsatz: ­Jeder spricht seine Muttersprache, die anderen können ihm folgen. Mein Französisch nach nur sechseinhalb Schuljahren tut es dafür vollauf, bei den Welschen, vor allem bei den Parlamentariern im Bundeshaus, bin ich da nicht so ­sicher.
Ich spreche immer noch nicht lieber Französisch, aber es reicht, um meinen compatrioteszuzurufen: «Nehmt uns Thurgauer wie bisher einfach nicht zur Kenntnis und lasst uns in ­Ruhe – fichez-nous la paix, ça suffit.»

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