21. September 2014

"Es geht um unsere Kultur"

Die Waadtländer Bildungsdirektorin Anne-Catherine Lyon (SP) präsidiert die welsche Konferenz der Bildungsdirektoren und äussert sich zur aktuellen Debatte um die Primarfremdsprachen.




"Mangel an Reflexion", Bild: Cédric Widmer


"Wir müssen einen Flächenbrand verhindern", NZZaS, 21.9. von Katharina Bracher und René Donzé



Die Diskussion um den Französischunterricht an der Primarschule wird immer heftiger geführt, nun befasst sich auch die Bildungskommission des Nationalrats mit der Sprachenfrage. Sind Sie froh um den Rückhalt in Bern?
Wie soll ich sagen: Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten. Wir befinden uns in einem sehr, sehr heiklen Moment. Es ist zwar schön, dass sich die nationale Politik um die Sprachenfrage kümmern will, doch eigentlich müssen wir Kantone eine Lösung finden. Das hat absolute Priorität. Wir müssen einen Flächenbrand verhindern.
Was für einen Flächenbrand?
Die Vorstösse zur Abschaffung des Französisch in den Primarschulen der Kantone Thurgau, Nidwalden, Luzern und Graubünden sind ein Spiel mit dem Feuer. Es ist Zeichen eines Mangels an Reflexion. Es geht hier um weit mehr als eine schulische Frage, es geht um die nationale Kohäsion.
Genau deswegen wollen ja einige Mitglieder der Bildungskommission das Erlernen einer zweiten Landessprache in der Primarschule ins nationale Sprachengesetz schreiben. So wäre das Frühfranzösisch gesichert.
Da bin ich nicht so sicher. Ich fürchte vielmehr, dass es dann zum Referendum käme. Auch wenn heute noch viele Deutschschweizer Kantone für den Französischunterricht sind: Wir Romands sind eine Minderheit und sehen uns einer grossen Mehrheit von Deutschschweizern gegenüber. Das weckt grosse Befürchtungen, dass wir eine Abstimmung verlieren könnten.
Das ist nicht gesagt. Immerhin haben sich einst mehrere Deutschschweizer Kantone für Frühfranzösisch entschieden.
Ich fürchte mich auf jeden Fall vor einer solchen Abstimmung - egal, wie das Resultat lauten wird. Wir sehen ja immer wieder, wie die Schweiz in politischen Angelegenheiten gespalten wird - wie etwa damals beim EWR-Referendum. Bei der Sprache geht es aber noch um viel mehr: Es geht um unsere Kultur, um unser Wesen, um die gegenseitige Akzeptanz. Diese Zerreissprobe sollten wir unserem Land nicht zumuten. Sonst könnte es zu belgischen Verhältnissen kommen. Das gäbe Brüche quer durch Parteien, durch Kantone, durch Familien.
Wie wollen Sie denn sonst das Frühfranzösisch retten?
Das kann ich im Moment noch nicht sagen. Die Erziehungsdirektorenkonferenz braucht Zeit, um eine Lösung zu finden. Wir werden demnächst darüber diskutieren.
Im Thurgau hat das Parlament entschieden, darüber kann sich die EDK nicht hinwegsetzen.
Ich kenne die politische Realität selbstverständlich sehr gut. Und dennoch darf man die Hoffnung nicht vorschnell aufgeben. Wir haben schliesslich auch einen Ausweg gefunden, als Zürich mit dem Frühenglisch vorgeprellt war. Damals einigten wir uns auf einen Kompromiss. Wieso sollten wir nun keinen neuen finden?
Glauben Sie nicht auch, dass Primarschüler mit zwei Fremdsprachen überfordert sind?
Das scheint vor allem ein Deutschschweizer Problem zu sein. Die welschen Lehrerverbände sehen das anders. Offensichtlich sind in der Deutschschweiz einige überzeugt, dass manche Kinder überfordert sind, wenn sie zuerst Mundart, dann Hochdeutsch und dann noch zwei Fremdsprachen lernen müssen. Ich respektiere das Problem, aber man darf es nicht auf unsere Kosten lösen. Wenn die Schüler tatsächlich zu stark belastet sind, müsste man über das Frühenglisch diskutieren, nicht über das Französisch in der Primarschule.
Darauf scheinen sich auch Politiker der SP und der SVP als Minimalkonsens einigen zu wollen, wie am Freitag im «Tages-Anzeiger» zu lesen war.
Das wäre der richtige Ansatz, wenn überhaupt eine Überforderung vorhanden wäre. Doch das bezweifle ich stark.
Sie reagieren in dieser Angelegenheit sehr sensibel, warum?
Ich bin traurig und besorgt. Wir haben in der Romandie einen enormen Effort unternommen, um die deutsche Sprache in unseren Schulen einzuführen. Wir geben dem Deutschen eine grosse Wichtigkeit. Es beelendet mich, wenn einige Deutschschweizer Kantone keine Lust zeigen, dem Französischen den gleichen Platz zuzugestehen.
Am Ende sollen doch alle das gleiche Niveau erreichen, zumindest verspricht das etwa die Regierung von Nidwalden.
Diese Argumentation ist irreführend und zielt am Problem vorbei. Es geht um mehr als das technische Sprachenlernen. Die Kinder sollen früh mit der zweiten Landessprache in Kontakt kommen und ein Gefühl dafür entwickeln. Es ist eine Frage der Hinwendung zu einer anderen Kultur und der Offenheit gegenüber anderssprachigen Landsleuten. Diese Sensibilisierung muss früh beginnen, sonst driften die Landesteile auseinander.
Ist es denkbar, dass die Romands das Deutsch an der Primarschule ebenfalls wieder zur Diskussion stellen?
Das kommt nicht infrage. Als Sprachminderheit haben wir gar keine Wahl. Wir werden dem Deutsch weiterhin einen hohen Stellenwert beimessen, obwohl es alles andere als einfach ist.
Was wäre die Konsequenz, wenn es tatsächlich zur grossen Welle gegen das Frühfranzösisch in der Deutschschweiz käme?
Dann müssten wir uns überlegen, wie wir am besten reagieren können. Offensichtlich haben jetzt schon gewisse SVP-Politiker in der Deutschschweiz das Gefühl, wir seien nichts anderes als faule, Wein trinkende Bewohner eines schönen Fleckens der Schweiz. Sie vergessen dabei vielleicht, dass etwa die Waadt zu den wirtschaftsstärksten Regionen Europas zählt. Vielleicht sollten wir uns überlegen, ob wir weiterhin so viel Geld in den Finanzausgleich investieren wollen, wo wir doch sonst nichts wert sein sollen. Das wäre noch interessant, oder?
Interview: Katharina Bracher, René Donzé

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