26. Oktober 2014

Der nationale Zusammenhalt

Die SP Schweiz pocht zusammen mit den Bildungspolitikern der Westschweiz darauf, wie wichtig die Kenntnis der Landessprachen für den nationalen Zusammenhalt sei. Sie torpedieren sogar klare Verbesserungen im Französischunterricht, wie sie die Kantone Thurgau und Nidwalden wollen. Geht nicht, nix da. Wenn ihr nicht als erste Fremdsprache Französisch ab der 3. Primar lernt, dann fällt das Land auseinander. Nicht mehr und nicht weniger. In einem amüsanten Experiment versucht Katharina Bracher in der Stadt Lausanne herauszufinden, wie gut es denn um die Deutschkenntnisse der Romands steht. (uk)
"English, maybe?", NZZaS, 26.10. von Katharina Bracher


Die Lausanner sind ein leutseliges Völkchen. Werden sie von einer Fremden auf der Strasse angesprochen, geben sie bereitwillig Auskunft. Sie zeigen gestenreich den Weg, bieten ihr Handy als Navigationshilfe an, geben Tipps zum schönsten Aussichtspunkt, und einige erzählen auf Nachfrage sogar persönliche Dinge - solange sie nicht gebeten werden, dies auf Deutsch zu tun. Denn dann gefriert ihre Miene. Vor Schreck. Oder Ablehnung. Oder vielleicht, weil sie mit einem plötzlichen Lachanfall zu kämpfen haben.
Es ist Freitagmorgen um halb zehn, ich versuche mich auf Deutsch in Lausanne durchzuschlagen. Eine vielleicht dreissigjährige Frau mit pinkfarbenen Ohrringen kommt die Treppe im Bahnhof hoch. Sie lächelt und versucht mir auszuweichen. «Entschuldigen Sie, sprechen Sie Deutsch?» frage ich. Ihr Lächeln verschwindet. «English, maybe?», fragt sie zurück. Ich erkundige mich beharrlich auf Deutsch nach dem Weg zum Elysée-Museum. Dazu strahle ich wie ein westlicher Tourist in Asien, der um jeden Preis den Eindruck von Kolonialherrentum vermeiden will. Die junge Frau windet sich. «Sie gehen rechts . . . puis . . . you turn down in direction to the lake . . .» Ich bedanke mich überschwänglich und frage nach, ob sie aus Lausanne stamme. Sie nickt. Hier aufgewachsen. Hatte sie Deutsch in der Schule? Wieder Kopfnicken. Sie hatte schon Deutschunterricht in der Primarschule. Wie als Entschuldigung fügt sie an: «Meine Eltern stammen aus dem Maghreb.»
Aus der Wegbeschreibung nicht schlau geworden, krame ich mein Handy hervor. Vom Gerät aufblickend, sehe ich einen Mann auf mich zukommen. «Entschuldigen Sie, sprechen Sie Deutsch?», frage ich. Er bleibt überrascht stehen. «Non», erwidert er. Wir unterhalten uns auf Englisch, und er führt mich zur Migros an der Ecke der Avenue d'Ouchy. Deutschunterricht hatte er während sechs Jahren im Langzeitgymnasium, erklärt er mir. Deutsch ist in der Westschweiz eines der drei entscheidenden Fächer für die Matura. Heute bevorzuge er allerdings englische Literatur, schaue amerikanische Filme und höre französische Musik. Deutsch habe er deshalb verlernt. Englisch klinge auch schöner, erklärt er mir zum Abschied.
An der Ampel spreche ich eine Frau an. Sie versteht und spricht Deutsch. Sie ist gebürtige Luzernerin. Sie zeigt mir den Weg und erzählt unterwegs, wie schwierig es war, in Lausanne neue Freunde zu finden. «Deutschschweizern begegnet man in der Regel mit Vorurteilen», erklärt sie mir. Ich fasse das als Warnung auf und nehme mir fest vor, noch mehr zu lächeln. Neben dem Museum Elysée befindet sich die gleichnamige Schule. Da will ich hin, um eine Deutschstunde der dritten Sekundarschule zu besuchen. Nur leider, das merke ich erst jetzt, steht das Schulhaus verlassen. Vor dem Gebäude mit Seeblick stakse ich etwas im nassen Rasen herum. Zwei Frauen mit vielen kleinen Kindern gehen am Schulhaus vorbei und schauen mich fragend an. Ich grüsse deutsch und frage, ob im Kanton Waadt Schulferien seien. Die beiden schauen sich erschrocken an und zucken mit den Schultern. Weiter hinten begegne ich einem Mann mit Laubbläser. Instinktiv erfasst er, in welche Richtung meine Frage gehen könnte: «No school», bedeutet er mir und stellt sein Gerät an.
Zwei Gesprächspartner weiter («English is better») finde ich die Metro-Station Délices. Unten führt gerade ein Angestellter der Verkehrsbetriebe am offenen Billettautomaten eine Reparatur durch. Ich beuge mich zu ihm hinunter und halte ich ihm eine Tageskarte unter die Nase, die ich in Zürich gekauft habe. Ob ich damit auf dem lokalen Netz fahren kann? Der Mann schaut lange Zeit nachdenklich auf die Karte, als hätte er es mit Hieroglyphen zu tun. Schliesslich hält er den Daumen hoch und grinst mir erfreut ins Gesicht: «Okay!»
Mit der Metro fahre ich zum Universitätsspital. Dort postiere ich mich in der Einfahrt und frage nach der Notaufnahme. In meinem Rücken die Aufschrift «urgence» in roten Lettern. Niemand begreift meine Frage. Eine Weile stehe ich dort und formuliere meine Frage immer wieder um. Zuletzt spreche ich eine Frau mit weisser Schürze an: «Notfall?» frage ich. «English? Or Spanish?», schlägt sie mir vor. Nach weiteren Stationen durch die Stadt - ein Feinkostladen, ein Restaurant, ein Museumsladen, wo die Mitarbeiter ausschliesslich französisch sprechen, ist es fast vier Uhr. Die Leute strömen aus ihren Büros in Richtung Zug. Ich gebe auf und gönne mir ein Tschumpeli Dôle.
Wer übrigens in Lausanne sein Kind einschulen will, kann dazu in mehreren Sprachen im Internet Informationen beziehen. Auch auf Deutsch. Aber wer sein Kind zur Schule schicken will und weder Französisch noch Englisch versteht oder spricht, schafft es möglicherweise nicht einmal bis zur Bushaltestelle.


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