24. Oktober 2014

Jeder dritte Gymeler gehört nicht dorthin

Sind die falschen Kinder im Gymnasium? Intelligenzforscherin Elsbeth Stern hat den IQ von Gymi-Schülern getestet - ein Drittel lag unter dem entsprechenden Wert.




20 Prozent Gymi-Schüler sind richtig, Bild: ETH


"In Schweizer Gymnasien sind Kinder, die dort nicht hingehören", Tages Anzeiger, 24.10. von Barbara Reye



Schon früh geraten Kinder in die gigantische Mühle der Förder­­päda­gogik – ­Babyschwimmen, Ballett, ­Früh­englisch und Musikunterricht. Bringt dies etwas?
Nein, überhaupt nicht. Viele Dinge kann ein Kind später viel leichter lernen, wenn es einiges an Vorwissen mitbringt. Ein Kind sollte grundsätzlich in diesem Alter nicht zu sehr fremdbestimmt sein. Zum Beispiel ist es völlig kontraproduktiv, einem Dreijährigen Geige beizubringen, wenn er dazu keinerlei Tendenzen zeigt. Um schlau zu werden, muss ein Kind auch nicht unbedingt ein Musik­instrument spielen, sondern später vor allem lesen und schreiben können. Das ist entscheidend.
Lässt sich – allem elterlichen ­Engagement und Ehrgeiz zum Trotz – der Bildungserfolg eines Kindes somit nicht mit etwas mehr Drill und Disziplin in die gewünschten Bahnen lenken?
Kinder sollten das lernen, was im Bereich ihrer Möglichkeiten liegt. Und Eltern sollten nicht glauben, dass sie bei der geistigen Entwicklung ihres Kindes alles in der Hand haben und es mit Druck beliebig trimmen können. Kinder sollten möglichst selbstbestimmt leben und das machen, was ihnen wirklich wichtig ist und wofür sie auch begabt sind. Um Intelligenz im Rahmen der genetischen Anlagen optimal zu entwickeln, braucht ein Kind vor allem emotionale Geborgenheit und sprachliche Zuwendung.
Viele Eltern haben grosse Angst, dass sie eine Chance für ihre ­Sprösslinge verpassen und sich ein «Lernfenster» für immer schliesst. Gibt es dies also gar nicht?
Doch, aber nur beim natürlichen Spracherwerb. Wenn Eltern die Möglichkeit haben, ihr Kind zweisprachig zu erziehen, sollten sie diese unbedingt nutzen. Damit machen sie dem Kind ein grosses Geschenk. Doch ein bisschen Frühenglisch bringt gar nichts. Viel wichtiger für den späteren schulischen Erfolg ist es, mit Kindern von Anfang an viel zu sprechen, ihnen Geschichten vorzulesen, ihnen zuzuhören und ihren Wortschatz ständig zu erweitern. Sehr früh sind Kinder auch auf eine korrekte Sprache und Grammatik angewiesen. Damit kann man viel bewirken. Ein Fernseher kann diese Art der Kommunikation nicht ersetzen.
Welchen Einfluss haben ­Lehrpersonen?
Einen sehr grossen. Sie dürfen sich nicht herausreden und einfach sagen, dass sie bei gewissen Schülern eh nichts machen können. Man kann ein Kind nicht zu einem Genie machen. Doch gute Lehrer schaffen es, alle Kinder nach oben zu ziehen. Die Umwelt sorgt dafür, dass vererbte Anlagen sich entwickeln können, also «Nature via Nurture». Von gutem Unterricht können somit alle profitieren.
Wie stark bestimmen genetische Faktoren den Schulerfolg?
Zu einem grossen Teil. Lange Zeit hat man dies unterschätzt. In einer Klasse sind die Intelligenzunterschiede meist gross, da sich Menschen generell stark im genetischen Bauplan unterscheiden, der die Hirn- und damit auch die Intelligenz­entwicklung steuert. Bei der Vererbung werden die «Karten» immer wieder von Generation zu Generation neu gemischt. So können hochintelligente Eltern durchschnittlich intelligente Kinder haben und hochbegabte Kinder aus Familien kommen, in denen bisher niemand durch übermässige geistige Gaben aufgefallen ist. Eine gute soziale Herkunft bedeutet nicht automatisch, dass man Intelligenz mitbringt. Und hochbegabt sind auch nur zwei Prozent der Bevölkerung.
Was halten Sie davon, dass in der Schweiz nur rund zwanzig Prozent der Kinder aufs Gymnasium gehen können?
Dies finde ich im Gegensatz zu Deutschland richtig, wo die Hälfte der Schüler aufs Gymnasium geht und die meisten davon nur mittelmässig begabt sind. Denn dies ergibt sich zwangsläufig aus der Normalverteilung der Intelligenz.
Dennoch plädieren Sie dafür, auch in der Schweiz noch zusätzlich zur Aufnahmeprüfung IQ-Tests ­einzuführen.
Ja, aber nicht flächendeckend, sondern nur in Einzelfällen. Denn es schlummern bei einigen Schülern Potenziale, die nicht entdeckt werden. Wenn ein Kind zum Beispiel überdurchschnittlich gut in Mathematik ist, aber aufgrund eines Migrationshintergrunds in Deutsch die erforderlichen Leistungen für den Übertritt aufs Gymnasium nicht schafft. In solchen Fällen ist es wichtig, dass diese Kinder bereits rechtzeitig in der Primarschule erkannt und dann auch gezielt gefördert werden.
Liesse sich die Quote von rund zwanzig Prozent dann überhaupt noch einhalten?
Ja, denn auch in der Schweiz sind auf dem Gymnasium Kinder, die dort eigentlich nicht hingehören und nur durchschnittlich intelligent sind. Wir haben IQ-Tests in mehreren Gymnasien gemacht und festgestellt, dass auch viele der Schüler in der Schweiz unter dem theoretisch errechneten Mindest-IQ sind, der bei 112,6 liegt. Dieser Wert kommt zustande, wenn wirklich nur die zwanzig Prozent der Intelligentesten aufs Gymnasium gehen würden. Leider ist dies auch hierzulande nicht der Fall. Bei unseren Stichproben lag mehr als ein Drittel unter dem IQ 112,6.
Ist ein solcher Wert tatsächlich so ausschlaggebend?
Ja, weil man auch mit Fleiss und Fördermassnahmen sehr weit kommt, aber letztlich zahlt sich dies nicht aus. Denn wer später eine akademische Laufbahn anstrebt, hat danach Probleme. Deshalb muss man genau hinschauen, wer auf den akademischen Track geht. Noch viel wichtiger als diese zwanzig Prozent ist, was man den anderen bieten kann. Für die Mehrheit sollte es deshalb gute Fachhochschulen und eine funktionierende Berufsbildung geben, so wie es in der Schweiz der Fall ist. Auch die Gesellschaft hat ein Interesse daran, wer auf das Gymnasium und später auf die Universität geht. Schliesslich zahlt sie dafür und hat einen Anspruch darauf, dass nur diejenigen das kriegen, die der Gesellschaft auch maximal etwas zurückgeben können. Es ist nicht sinnvoll, wenn ein weniger intelligenter Mensch Arzt wird und ein Intelligenterer Arzthelfer. Für den Patienten wäre es andersherum besser.
Wie sieht Ihrer Meinung nach guter Unterricht aus?
Die Schüler sollten die Zeit dort intensiv nutzen und nicht verplempern. Schule ist zum Lernen da und nicht zum Herumhängen. Danach können die Kinder auch wieder eine Zeit lang machen, was sie wollen. Das ist genauso wichtig. In Zusammenarbeit mit der Jacobs Foundation haben wir jetzt in insgesamt 300 Deutschschweizer Primarklassen begonnen, Naturwissenschaften zu unterrichten. Und gehen mit Experimenten unter anderem den Fragen nach: Warum schwimmt ein Schiff? Wie breitet sich Schall aus? Was hält Brücken zusammen? Danach müssen die Schüler den Versuch beschreiben. Auf diese Weise vermitteln wir Vorkonzepte über Dichte, Auftrieb, Statik oder Akustik, anstatt die Kinder schwarze Löcher mit Knete basteln oder Pirat spielen zu lassen. Der Inhalt und die Vermittlung von Wissen ist das Wesentliche.
Letztes Wochenende hat ein ­zwölfjähriger Schweizer in seiner Alterskategorie die ­europäische Olympiade im ­Kopfrechnen gewonnen. Ist dafür eine besondere mathematische Begabung notwendig?
Nicht unbedingt. Kopfrechnen ist eine sehr spezifische Sache, für die man ­Konzentration und viel Übung braucht, aber nicht hochbegabt sein muss. Man kann zum Beispiel auch Gedächtnis­weltmeister für Zahlen werden und sich auf Zuruf 100 Zahlen merken. Dafür gibt es Tricks mit Bildern: Die 1 ist ein Stock, die 7 ein Zwerg, die 0 ein Ei. Danach setzt man sich die Zahlen und Bilder zusammen. Dafür braucht es viel Zeit und Training. Wer dies macht, ist dadurch aber nicht automatisch gut auch im ­Vokabellernen.


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