19. Oktober 2014

Unhaltbares Sprachenkonzept

Das bildungspolitische Credo: je jünger, desto besser, ist definitiv nicht mehr haltbar. Pseudostudien und Gefälligkeitsgutachten sind als solche entlarvt. Für die Schweizer Schule gilt es nun, den Fremdsprachenunterricht auf das mögliche und sinnvolle auszurichten. Und das bedeutet im Klartext: Eine Fremdsprache gegen Ende der Primarschule, eine zweite zu Beginn der Sekundarschule. Guter Unterricht in beiden Sprachen mit vier Lektionen pro Woche wird die Sprachkompetenz der Schüler massiv steigern. Und noch etwas: Die ideologiedurchtränkten Schweizer Lehrmittel können wir dabei vergessen. (uk)




Das Sprachbad, das in der Schule nicht umsetzbar ist, Bild: Andrea Caprez

Je früher, desto besser? NZZaS, 19.10. von Katharina Bracher



Am Anfang des Frühsprachen-Booms steht eine theoretische Abhandlung. Der deutsch-amerikanische Neurologe Eric Lenneberg postulierte 1967 in einem Aufsatz die Hypothese der «kritischen Periode». Diese besagt, dass Spracherwerb nur innerhalb eines begrenzten Zeitfensters in der Kindheit erfolgreich ist. Danach ist das Erlernen einer Sprache erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht. Einen Beleg glaubten zeitgenössische Forscher in einem schweren Fall von Kindsmisshandlung aus dem Jahr 1970 gefunden zu haben: Genie, ein Mädchen von 13 Jahren, wurde in Los Angeles von den Behörden schwer misshandelt und verwahrlost im Haus ihrer Eltern gefunden. Der Vater hatte Genie als Säugling in einen Raum eingeschlossen, wo sie jahrelang entweder auf einer Kinder-Toilette festgeschnallt oder an ein Bett gefesselt vor sich hin vegetierte. Neben allen körperlichen und psychischen Folgen dieses Martyriums hatte das Mädchen nie gelernt, sich verbal zu verständigen. Trotz grossen Anstrengungen ihrer späteren Pflegeeltern und von Pädagogen gelang es Genie nie, richtig sprechen zu lernen. Der Fall Genie bestärkte Lennebergs Hypothese von der kritischen Periode: Verpasst man besagtes Zeitfenster in der Kindheit, ist die Chance, eine Sprache zu erlernen, womöglich für immer verpasst.
Überholtes Paradigma
Obwohl empirische Belege für Lennebergs Hypothese von der Wissenschaft fehlten, vermochte sie eine regelrechte Frühsprachen-Welle auszulösen. Ihren Anfang nahm diese in Amerika, wo ganze Generationen von ehrgeizigen Eltern und Lehrern nach dem Motto «Je früher, desto besser» die Kinder in Fremdsprachen unterrichteten. Mit etwas Verspätung kam das Paradigma in den 1990ern auch in der mehrsprachigen Schweiz an. Nicht nur Elternforen und pädagogische Fachkreise, sondern die ganze Bildungs- und Sprachpolitik des Landes richtet sich seit vielen Jahren danach. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren stützte 2004 ihre Fremdsprachen-Strategie auf die Hypothese der kritischen Phase. Kinder sollen schon in der dritten Primarschulklasse mit der ersten Fremdsprache beginnen, heisst es im Papier.
Doch aus wissenschaftlicher Sicht ist das Paradigma der kritischen Lernphase längst überholt. Nach der anfänglichen Euphorie bringt die Forschung heute fast ausnahmslos Studien hervor, die einen Vorteil des Frühsprachen-Erwerbs eher infrage stellen. «Es existiert bis heute keine wirklich ernstzunehmende Studie, die zeigt, dass man früher beginnen muss mit dem Fremdsprachenunterricht, um eine bessere Sprachkompetenz zu erreichen», sagt Raphael Berthele, Direktor des Instituts für Mehrsprachigkeit in Freiburg. Berthele hat kürzlich denForschungsstand zum Thema Frühsprachen-Förderung im Auftrag der kantonalenErziehungsdirektoren zusammengetragen. «Aus empirischer Sicht erscheint die Annahme einer kritischen Periode immer weniger wahrscheinlich», heisst es im Fazit des Literaturüberblicks. Lennebergs Hypothese habe sich auf den natürlichen Spracherwerb bezogen und sei von seinen Anhängern fälschlicherweise auf den Sprachunterricht im Klassenzimmer übertragen worden, erklärt die Linguistin Simone Pfenninger von der Universität Zürich (siehe Interview). Dabei finde der Zweitsprachen-Erwerb in einem natürlichen Umfeld statt - dem sprichwörtlichen Sprachbad des Alltags. Der Fremdsprachenunterricht im Schulzimmer finde jedoch unter ganz anderen Bedingungen statt. «Früher hat die Wissenschaft beim Altersfaktor nicht systematisch zwischen dem natürlichen Zweitsprachen-Erwerb und dem Fremdsprachenunterricht unterschieden», sagt Pfenninger. Heute wisse man jedoch, dass diese Unterscheidung wichtig sei, um den Effekt des Frühsprachen-Lernens methodisch korrekt zu erforschen.
Die Anglistin Pfenninger hat vor kurzem die erste Schweizer Langzeitstudie zum Thema Frühenglisch publiziert. Dabei hat sie die Englischkompetenzen von 13-jährigen Zürcher Schülern im ersten und im letzten Oberstufenjahr getestet - die einen hatten bereits seit der Primarschule Englischunterricht, die anderen hatten erst vor einem halben Jahr damit begonnen. Die Wissenschafterin ging der Frage nach, ob die späteren Lerner dazu in der Lage waren, ihren Rückstand aufzuholen. «Trotz fünf Jahre Vorsprung schnitten die Schüler, die Frühenglisch hatten, nicht besser ab», stellt Pfenninger fest. Die «Spätlerner» hatten ihren Rückstand also nur innerhalb von sechs Monaten aufgeholt. Beim Lösen von grammatikalischen Aufgaben waren sie sogar leicht im Vorteil.
Jüngere sind doch im Vorteil
Ausserdem zeigten die beiden Gruppen unterschiedliche Herangehensweisen bei der Lösung der Aufgaben. «Frühlerner tendieren dazu, die Sprachen zu mixen», stellt Pfenninger fest. Sie hätten allgemein einen unbefangeneren Umgang mit der Sprache, etwa, indem sie gerne frei erfundene Pluralformen verwendeten oder bei den Zeitformen einfach ausprobierten, bis der Satz ungefähr passe. Schwach ausgeprägte Vorteile für die «Frühlerner» entdeckte die Wissenschafterin nur in Bezug auf die Aussprache. Schüler, die bereits in der Primarschule Englisch hatten, kamen besser zurecht mit der korrekten Aussprache. Gemäss früheren linguistischen Studien liegt das optimale Alter, um die Laute einer Fremdsprache optimal zu erlernen, noch viel tiefer. Wer bereits zwischen fünf und sieben Jahren erstmals mit einer Zweitsprache konfrontiert wird, habe gute Aussichten, eines Tages akzentfrei zu sprechen, heisst es dort.
Berthele hält selbst diese geringen Vorteile der «Frühlerner» für wissenschaftlich wenig haltbar. «Hingegen gibt es sehr wohl Unterschiede zwischen der Motivation von jüngeren und älteren Lernenden», sagt Berthele. Aus der Sprachforschung wisse man zum Beispiel, dass sich Kinder nicht so schnell entmutigen lassen von Lernschwierigkeiten wie Jugendliche oder Erwachsene. «Kinder sind deshalb motivierter, eine Fremdsprache zu erlernen. Was sich auch auf den Lernerfolg auswirkt», erklärt er.
Doch wie sieht es mit der vielzitierten Überforderung von schwachen Schülern aus, die mit zwei Fremdsprachen in der Primarschule überfordert sind? Manche Vertreter aus der Schweizer Lehrerschaft sprechen von bis zu 50 Prozent der Schüler, die überfordert seien mit dem Frühsprachen-Unterricht. Eine Studie der Pädagogischen Hochschule Luzern aus dem Jahr 2009 geht davon aus, dass mindestens jedes fünfte Kind in der Primarschule überfordert ist mit dem frühen Fremdsprachenunterricht.
Sprachforscher Berthele mag sich nicht auf eine Zahl festlegen. «Das Problem der Überforderung ist nicht seriös wissenschaftlich erforscht», sagt er. Die Definition der «Überforderung» sei in den zitierten Studien den befragten Lehrern oder den Schülern, die sich selbst einschätzen müssten, überlassen. Das sei weit entfernt von einer wissenschaftlichen Vorgehensweise. «Wir müssen zuerst exakt festlegen, was mit Überforderung gemeint ist», sagt Berthele. Sind das Schüler, die generell wenig oder gar keinen Unterrichtsstoff aufnehmen? Meint man mit Überforderung, dass sich diese schädlich auswirkt auf andere Fächer? Oder erleidet der Schüler selbst Schaden durch die Überforderung? All diese Fragen müsse man klären, um zu erforschen, ob die Schüler mit Frühsprachen überfordert seien.
Die meisten Sprachwissenschafter sträuben sich dagegen, klar Stellung zum erneut aufgeflammten Sprachenstreit zu beziehen. Zu heikel ist die politische Situation, zu emotional die Debatte. Zwar hat sich die aus heutiger Sicht pseudowissenschaftliche Behauptung, wer eine Fremdsprache lernen wolle, müsse damit anfangen, solange das Hirn noch jung sei, längst widerlegt. Doch die Forscher wollen das nicht als Votum gegen Frühsprachen verstanden wissen. «Setzt der Lernprozess früher ein, sind die maximal erreichbaren Kompetenzen möglicherweise höher, weil man mehr Kontaktstunden mit der Sprache hatte», lautet Bertheles Fazit. Wer bereits im Kindesalter eine Fremdsprache lerne, habe damit aus wissenschaftlicher Sicht einen guten Boden für erfolgreichen Spracherwerb gelegt. Die Frage sei mehr, wie viel Mehrsprachigkeit das Schweizer Schulsystem insgesamt vertrage.


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