12. November 2014

Nachruf auf die Schnürlischrift

Man hört erstaunlich wenig Protest. Für eine Ausdrucksweise, die jahrzehntelang die schriftliche Produktion in der Schule geprägt hat, ist dies doch überraschend. Trauert denn wirklich niemand der Schnürlischrift nach? Anhand der verhaltenen Reaktionen muss dies fast vermutet werden. Liessmann weist auf den Zusammenhang zwischen flüssiger Schrift und dem Denken hin. Doch die meisten haben sich innerlich wohl bereits von der Schnürlischrift verabschiedet. Wird die neue Basisschrift noch mehr Individualität zulassen als bisher die Schnürlischrift? Wir werden es sehen. Wird die Basisschrift den Niedergang der Handschrift beschleunigen? Wir werden es sehen. Ist die Schnürlischrift bloss ein alter Zopf, den man bedenkenlos abschneiden kann? Wir werden es an den eigenen Korrekturarbeiten erleben. Alle jene, denen der Abschied von der Schnürlischrift etwas zu abrupt vonstatten ging, werden den Text von Alain Claude Sulzer mit Freude lesen. (uk)





Mit der Schnürlischrift gehen mehr als ein paar Schnörkel verloren, Bild: swissinfo

Machen wir's kurz, NZZ, 12.11. von Alain Claude Sulzer



An vieles erinnere ich mich nicht, auch nicht an den Begriff «Schnürlischrift». Ich erinnere mich also nicht daran, dass unser Lehrer, Herr Rentsch, eines Tages zu uns gesagt hätte: So, ihr Lieben, jetzt lernen wir Schnürlischrift. Ich erinnere mich an «Blockschrift» und an «verbundene» Schrift, aber ich habe keine Ahnung, wann wir mit der einen und wann mit der anderen angefangen haben. (Das habe ich nun nachträglich recherchiert.) Am ehesten - und liebsten - erinnere ich mich daran, dass mir die Schule zunächst keine wesentlichen Probleme bereitete. Ich ging gerne hin. Ich ging sogar gerne zum Blockflötenunterricht, den ebenfalls Herr Rentsch erteilte. Er lehrte in der Primarklasse des Schulhauses Erlensträsschen in Riehen ja überhaupt alle Fächer, und ich nehme an, das ist heute nicht anders als damals: Ein Lehrer für alle und alles. Das einzige Fach, das ich mit Inbrunst hasste, war Sport. Mit Rechnen hatte ich noch keine Erfahrungen gemacht.
Lesefibel und Holzstäbchen
Ich erinnere mich allerdings ziemlich genau an den Tag, an dem die Mappen mit den losen Blättern verteilt wurden, die von Anneli und Hansli handelten. Und an den ersten Satz, jedenfalls habe ich ihn als solchen im Gedächtnis. Er lautete: «Anneli und Hansli gehen in die Schule.» Wahrscheinlich enthielt dieser Satz genügend Buchstaben, auf denen man herumbeissen konnte. Die Texte zu den Bildern bestanden aus schwarzen Strichen und Bögen in Blockschrift. Die Figuren waren ebenfalls von schwarzen Strichen und Bögen umrandet. Ich machte meine erste Bekanntschaft mit dem Illustrator Celestino Piatti, den ich lange Zeit auch für den Verfasser hielt. In Wahrheit stammten die Texte von Esther Gutknecht. Die erste Auflage erschien 1959. Da ich 1953 geboren wurde, gehörte ich zum ersten Jahrgang, der in den Genuss dieser «Ganzheitlichen Lesefibel» kam, deren Erscheinungsbild bunt und klar, modern und schlank war.
So bunt und schlank wie die Holzstäbchen, die wenige Wochen später meiner kurzen unbeschwerten Schulzeit ein Ende bereiteten. Mit diesen farbigen Stäbchen von unterschiedlicher Länge - den sogenannten Cuisenaire-Stäbchen - sollte man rechnen lernen. Ich verstand sie nicht! Vor mir türmte sich plötzlich ein riesiger Berg an Unverständnis auf, der aus lauter roten, blauen, gelben, grünen, rosa und weissen Stäbchen bestand. Von nun an war ich ein schlechter Schüler, jedenfalls einer, der sich nur noch selektiv am Unterricht beteiligte. Was ich schnell begriff, konnte mein Interesse fesseln. Dass ein rotes Stäbchen für eine 2, ein weisses für eine 1 und ein tannengrünes für eine 6 standen, wollte mir nicht einleuchten. In meinen Augen waren ein weisses und ein grünes Stäbchen zwei Stäbchen und nicht sieben. Noch heute sträuben sich mir beim Gedanken an diese Idee gewordenen Holzstückchen sämtliche Nackenhaare. Nur schnell weg von diesem Gegenstand!
Ob ich, wie ich mich zu erinnern glaube, tatsächlich bereits lesen konnte, als ich eingeschult wurde? Hatte mir mein älterer Bruder das Lesen nicht schon vor der Einschulung beigebracht, weil mir das Betrachten von Bilderbüchern auf Dauer nicht genügte? Heinrich Strubs umwerfende Illustrationen von «Sumse Sumsebrumm die kleine Fliege und die böse Spinne», das zu den ersten Büchern gehörte, die mich an jenes Fenster fesselten, das sich in die Welt öffnete, waren ohne die Verse von Walter Widmer nur annähernd verständlich. Sie mussten entziffert werden. Wer weiss, vielleicht waren die Anfangszeilen «Rings im hellen Sonnenschein / liegen Wald und Berg und Feld, / und es freut sich gross und klein, / reich und arm, die ganze Welt» die ersten Worte, die ich je gelesen habe. Also nicht Harmlosigkeiten von der Sorte «Hansli, wo bist? Hansli, träume ich?», sondern - weiter hinten im Text von «Sumse Sumsebrumm» - «Und mit bitterbösen Blicken / kommt die Spinne angekrabbelt, / wo die arme Fliege zappelt, / bindet sie mit dicken Stricken, / will sie erdrücken, / will sie ersticken, / will sie mit scharfen Zangen zwicken».
Aufgrund von Piattis Lesefibel - dem offiziellen Lehrmittel meines Heimatkantons - lernte man lesen, unter der Anleitung des Lehrers, der in seinem grauen Übergewand vor der Wandtafel stand, lernte man schreiben. Die persönliche Schiefertafel war - auch dies eine Neuerung - nicht mehr aus Schiefer (oder nur im ersten Jahr) und auch nicht schwarz, sondern aus einem kühlen, glatten, weissen Material, auf welchem man mit Bleistift seine ersten Schreibversuche unternahm. Dazu diente die linierte Tafelseite. Die «gehäuselte» (hochdeutsch: karierte) andere Seite war dem Rechnen vorbehalten. Anders als auf der alten, quietschfreudigen Schiefertafel konnte man seine Fehler auf dieser nicht mit Spucke löschen, man nahm den Radiergummi zu Hilfe. Da dieser nach mehrtägigem Gebrauch eine Schmierschicht hinterliess, musste die Tafel am Wochenende zu Hause gründlich mit Seife gereinigt werden.
Auf dieser weissen Tafel mit dem grauen Rand lernte man «verbunden» schreiben, die sogenannte Schnürlischrift (hochdeutsch: Schreibschrift). Das mag für die einen oder anderen, insbesondere für jene, die Linkshänder waren, eine ebensolche Qual gewesen sein wie mir das Rechnen mit den verhassten Cuisenaire-Stäbchen, aber die verbundene Schrift, die die Lücken zwischen den Buchstaben eines Wortes mit (möglichst) eleganten Bögen überbrückte, hatte den unschätzbaren Vorteil, dass sich mit ihr, sobald man sie beherrschte, was gewöhnlich nicht länger als ein Schuljahr dauerte, flüssiger und folgerichtig schneller schreiben liess als in Blockschrift. Neu setzte man nur noch für neue Wörter an, die im Schriftbild schon von weitem als solche erkennbar waren.
Darum ging es: sich schnell und flüssig auszudrücken. Nun wurde nicht mehr buchstäblich vor sich hingestottert, sondern wortwörtlich ein Fluss aus Wörtern auf möglichst geraden Wegen kanalisiert. Hatte man sämtliche Hindernisse überwunden, konnte man damit rechnen, dass sich keine neuen vor einem auftun würden. Einmal gelernt, verlernte man das Schreiben nicht mehr. Auf die, die noch Blockschrift schrieben, konnte man stolz herunterblicken. Das waren Häfelischüler.
Wenn man die Schnürlischrift beherrschte - meist am Ende der zweiten Klasse, spätestens in der dritten -, ging man dazu über, ein Schreibutensil zu benützen, das sich vor allem darin vom Bleistift unterschied, dass sich die Spuren, die es hinterliess, nur schwer aus der Welt schaffen liessen. Gegen Tinte kamen weder Radierer noch Seife an.
Mit meinem ersten Füller liess sich in der erlernten Schrift alles mit jenen Worten niederschreiben, die mir zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen. Ich schrieb Aufsätze, Hausarbeiten, Dankesbriefe an Verwandte, Listen (meiner Lektüre), schliesslich die ersten (und fast auch schon letzten) Gedichte. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, in Blockschrift zu schreiben, wie es manche Architekten taten, die selbst beim Schreiben die Form (mit möglichst kleinen Grossbuchstaben) zu wahren versuchten.
Schneller zur Tastatur
Ich schrieb zunehmend unscharf und schludrig. Ich übte meine Unterschrift. Ich machte mich allmählich frei von den Vorgaben des Schönschreibens und zog damit den Zorn der Lehrer auf mich. Ich versuchte, meine eigenen Wege zu gehen, und hatte mit der Schrift meinen mir nächsten Verbündeten. Je ausgefallener meine Handschrift war, je weiter ich mich von der erlernten Schnürlischrift entfernte, desto nachdrücklicher repräsentierte sie mich nach aussen. Sie war die Botschaft, die jeder lesen und über die sich jeder aufregen konnte. Meine ganz persönliche Handschrift war die solidarische Vertreterin meiner Originalität.
Als besonders schlimm empfand man, als ich damit begann, nach links geneigt zu schreiben. Das war während der Pubertät offenbar der angemessenste Ausdruck meiner Rebellion. Obwohl ich mir insgeheim darüber im Klaren war, wie unhaltbar (und anstrengend) dieses Verfahren war, hielt ich eine Weile stur daran fest. Es galt, sich zu behaupten. Doch allmählich neigte sich die Schrift wieder ins Zentrum, um nach einiger Zeit endgültig jene Richtung einzuschlagen, die man mir damals in der zweiten Klasse beigebracht hatte: Wind und Wetter trotzend, leicht schräg, aber bitte nicht am Boden schleichend wie ein Trüffelhund.
Nun kehrt man zu einer abgeschwächten Blockschrift zurück, zum Weg des geringsten Widerstands also, der von den Befürwortern in die wohlklingenden Worte Demokratisierung und Chancengleichheit gekleidet wird. Sie erinnern an die Einführung der neuen Rechtschreibung in Deutschland, die dazu führte, dass inzwischen jeder schreibt, wie es ihm gerade in den Kram passt. Dass man mit der Basisschrift nicht auch die Grossbuchstaben abschafft, grenzt an ein Wunder. Gewiss, eine eigene Handschrift wird man sich auch aufgrund der Basisschrift bilden können, aber ob dazu noch Zeit bleibt, jetzt, da es darum geht, den Weg vom eigenhändigen Schreiben zum getippten noch zu verkürzen?
Hinter den Argumenten der Befürworter glaubt man die unausgesprochene Ansicht herauszuhören, dass in Zukunft ohnehin kaum noch auf Papier geschrieben werden wird. Die Zukunft gehört der Tastatur. Die schreibt bekanntlich ohne unser Zutun gestochen leserlich auf das Display. Wozu eigentlich noch analog schreiben lernen? Demnächst wird ja auch die Signatur durch den Fingerabdruck ersetzt.
Machen wir es also kurz: Richtschnur ist, was der Typografie einer Tastatur nahekommt. Schreiben wird zum Zeichnen von Buchstaben. Es läuft alles aufs Tippen hinaus. Und die letzte fliessende Bewegung beim Schreiben bleibt dem Bildschirmwischen vorbehalten.

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