Mit der Schnürlischrift gehen mehr als ein paar Schnörkel verloren, Bild: swissinfo
Machen wir's kurz, NZZ, 12.11. von Alain Claude Sulzer
An vieles erinnere ich mich nicht, auch nicht an
den Begriff «Schnürlischrift». Ich erinnere mich also nicht daran, dass unser
Lehrer, Herr Rentsch, eines Tages zu uns gesagt hätte: So, ihr Lieben, jetzt
lernen wir Schnürlischrift. Ich erinnere mich an «Blockschrift» und an
«verbundene» Schrift, aber ich habe keine Ahnung, wann wir mit der einen und
wann mit der anderen angefangen haben. (Das habe ich nun nachträglich
recherchiert.) Am ehesten - und liebsten - erinnere ich mich daran, dass mir
die Schule zunächst keine wesentlichen Probleme bereitete. Ich ging gerne hin.
Ich ging sogar gerne zum Blockflötenunterricht, den ebenfalls Herr Rentsch
erteilte. Er lehrte in der Primarklasse des Schulhauses Erlensträsschen in
Riehen ja überhaupt alle Fächer, und ich nehme an, das ist heute nicht anders
als damals: Ein Lehrer für alle und alles. Das einzige Fach, das ich mit
Inbrunst hasste, war Sport. Mit Rechnen hatte ich noch keine Erfahrungen
gemacht.
Lesefibel und Holzstäbchen
Ich erinnere mich allerdings ziemlich genau an den
Tag, an dem die Mappen mit den losen Blättern verteilt wurden, die von Anneli
und Hansli handelten. Und an den ersten Satz, jedenfalls habe ich ihn als
solchen im Gedächtnis. Er lautete: «Anneli und Hansli gehen in die Schule.»
Wahrscheinlich enthielt dieser Satz genügend Buchstaben, auf denen man
herumbeissen konnte. Die Texte zu den Bildern bestanden aus schwarzen Strichen
und Bögen in Blockschrift. Die Figuren waren ebenfalls von schwarzen Strichen
und Bögen umrandet. Ich machte meine erste Bekanntschaft mit dem Illustrator
Celestino Piatti, den ich lange Zeit auch für den Verfasser hielt. In Wahrheit
stammten die Texte von Esther Gutknecht. Die erste Auflage erschien 1959. Da
ich 1953 geboren wurde, gehörte ich zum ersten Jahrgang, der in den Genuss
dieser «Ganzheitlichen Lesefibel» kam, deren Erscheinungsbild bunt und klar,
modern und schlank war.
So bunt und schlank wie die Holzstäbchen, die
wenige Wochen später meiner kurzen unbeschwerten Schulzeit ein Ende bereiteten.
Mit diesen farbigen Stäbchen von unterschiedlicher Länge - den sogenannten
Cuisenaire-Stäbchen - sollte man rechnen lernen. Ich verstand sie nicht! Vor
mir türmte sich plötzlich ein riesiger Berg an Unverständnis auf, der aus
lauter roten, blauen, gelben, grünen, rosa und weissen Stäbchen bestand. Von
nun an war ich ein schlechter Schüler, jedenfalls einer, der sich nur noch
selektiv am Unterricht beteiligte. Was ich schnell begriff, konnte mein
Interesse fesseln. Dass ein rotes Stäbchen für eine 2, ein weisses für eine 1
und ein tannengrünes für eine 6 standen, wollte mir nicht einleuchten. In
meinen Augen waren ein weisses und ein grünes Stäbchen zwei Stäbchen und nicht
sieben. Noch heute sträuben sich mir beim Gedanken an diese Idee gewordenen
Holzstückchen sämtliche Nackenhaare. Nur schnell weg von diesem Gegenstand!
Ob ich, wie ich mich zu erinnern glaube,
tatsächlich bereits lesen konnte, als ich eingeschult wurde? Hatte mir mein
älterer Bruder das Lesen nicht schon vor der Einschulung beigebracht, weil mir
das Betrachten von Bilderbüchern auf Dauer nicht genügte? Heinrich Strubs
umwerfende Illustrationen von «Sumse Sumsebrumm die kleine Fliege und die böse Spinne»,
das zu den ersten Büchern gehörte, die mich an jenes Fenster fesselten, das
sich in die Welt öffnete, waren ohne die Verse von Walter Widmer nur annähernd
verständlich. Sie mussten entziffert werden. Wer weiss, vielleicht waren die
Anfangszeilen «Rings im hellen Sonnenschein / liegen Wald und Berg und Feld, /
und es freut sich gross und klein, / reich und arm, die ganze Welt» die ersten
Worte, die ich je gelesen habe. Also nicht Harmlosigkeiten von der Sorte
«Hansli, wo bist? Hansli, träume ich?», sondern - weiter hinten im Text von
«Sumse Sumsebrumm» - «Und mit bitterbösen Blicken / kommt die Spinne
angekrabbelt, / wo die arme Fliege zappelt, / bindet sie mit dicken Stricken, /
will sie erdrücken, / will sie ersticken, / will sie mit scharfen Zangen
zwicken».
Aufgrund von Piattis Lesefibel - dem offiziellen
Lehrmittel meines Heimatkantons - lernte man lesen, unter der Anleitung des
Lehrers, der in seinem grauen Übergewand vor der Wandtafel stand, lernte man
schreiben. Die persönliche Schiefertafel war - auch dies eine Neuerung - nicht
mehr aus Schiefer (oder nur im ersten Jahr) und auch nicht schwarz, sondern aus
einem kühlen, glatten, weissen Material, auf welchem man mit Bleistift seine
ersten Schreibversuche unternahm. Dazu diente die linierte Tafelseite. Die
«gehäuselte» (hochdeutsch: karierte) andere Seite war dem Rechnen vorbehalten.
Anders als auf der alten, quietschfreudigen Schiefertafel konnte man seine
Fehler auf dieser nicht mit Spucke löschen, man nahm den Radiergummi zu Hilfe.
Da dieser nach mehrtägigem Gebrauch eine Schmierschicht hinterliess, musste die
Tafel am Wochenende zu Hause gründlich mit Seife gereinigt werden.
Auf dieser weissen Tafel mit dem grauen Rand lernte
man «verbunden» schreiben, die sogenannte Schnürlischrift (hochdeutsch:
Schreibschrift). Das mag für die einen oder anderen, insbesondere für jene, die
Linkshänder waren, eine ebensolche Qual gewesen sein wie mir das Rechnen mit
den verhassten Cuisenaire-Stäbchen, aber die verbundene Schrift, die die Lücken
zwischen den Buchstaben eines Wortes mit (möglichst) eleganten Bögen
überbrückte, hatte den unschätzbaren Vorteil, dass sich mit ihr, sobald man sie
beherrschte, was gewöhnlich nicht länger als ein Schuljahr dauerte, flüssiger
und folgerichtig schneller schreiben liess als in Blockschrift. Neu setzte man
nur noch für neue Wörter an, die im Schriftbild schon von weitem als solche
erkennbar waren.
Darum ging es: sich schnell und flüssig
auszudrücken. Nun wurde nicht mehr buchstäblich vor sich hingestottert, sondern
wortwörtlich ein Fluss aus Wörtern auf möglichst geraden Wegen kanalisiert.
Hatte man sämtliche Hindernisse überwunden, konnte man damit rechnen, dass sich
keine neuen vor einem auftun würden. Einmal gelernt, verlernte man das
Schreiben nicht mehr. Auf die, die noch Blockschrift schrieben, konnte man
stolz herunterblicken. Das waren Häfelischüler.
Wenn man die Schnürlischrift beherrschte - meist am
Ende der zweiten Klasse, spätestens in der dritten -, ging man dazu über, ein
Schreibutensil zu benützen, das sich vor allem darin vom Bleistift unterschied,
dass sich die Spuren, die es hinterliess, nur schwer aus der Welt schaffen
liessen. Gegen Tinte kamen weder Radierer noch Seife an.
Mit meinem ersten Füller liess sich in der
erlernten Schrift alles mit jenen Worten niederschreiben, die mir zu diesem
Zeitpunkt zur Verfügung standen. Ich schrieb Aufsätze, Hausarbeiten,
Dankesbriefe an Verwandte, Listen (meiner Lektüre), schliesslich die ersten
(und fast auch schon letzten) Gedichte. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen,
in Blockschrift zu schreiben, wie es manche Architekten taten, die selbst beim
Schreiben die Form (mit möglichst kleinen Grossbuchstaben) zu wahren
versuchten.
Schneller zur Tastatur
Ich schrieb zunehmend unscharf und schludrig. Ich
übte meine Unterschrift. Ich machte mich allmählich frei von den Vorgaben des
Schönschreibens und zog damit den Zorn der Lehrer auf mich. Ich versuchte,
meine eigenen Wege zu gehen, und hatte mit der Schrift meinen mir nächsten
Verbündeten. Je ausgefallener meine Handschrift war, je weiter ich mich von der
erlernten Schnürlischrift entfernte, desto nachdrücklicher repräsentierte sie
mich nach aussen. Sie war die Botschaft, die jeder lesen und über die sich
jeder aufregen konnte. Meine ganz persönliche Handschrift war die solidarische
Vertreterin meiner Originalität.
Als besonders schlimm empfand man, als ich damit
begann, nach links geneigt zu schreiben. Das war während der Pubertät offenbar
der angemessenste Ausdruck meiner Rebellion. Obwohl ich mir insgeheim darüber
im Klaren war, wie unhaltbar (und anstrengend) dieses Verfahren war, hielt ich
eine Weile stur daran fest. Es galt, sich zu behaupten. Doch allmählich neigte
sich die Schrift wieder ins Zentrum, um nach einiger Zeit endgültig jene
Richtung einzuschlagen, die man mir damals in der zweiten Klasse beigebracht
hatte: Wind und Wetter trotzend, leicht schräg, aber bitte nicht am Boden
schleichend wie ein Trüffelhund.
Nun kehrt man zu einer abgeschwächten Blockschrift
zurück, zum Weg des geringsten Widerstands also, der von den Befürwortern in
die wohlklingenden Worte Demokratisierung und Chancengleichheit gekleidet wird.
Sie erinnern an die Einführung der neuen Rechtschreibung in Deutschland, die
dazu führte, dass inzwischen jeder schreibt, wie es ihm gerade in den Kram passt.
Dass man mit der Basisschrift nicht auch die Grossbuchstaben abschafft, grenzt
an ein Wunder. Gewiss, eine eigene Handschrift wird man sich auch aufgrund der
Basisschrift bilden können, aber ob dazu noch Zeit bleibt, jetzt, da es darum
geht, den Weg vom eigenhändigen Schreiben zum getippten noch zu verkürzen?
Hinter den Argumenten der Befürworter glaubt man
die unausgesprochene Ansicht herauszuhören, dass in Zukunft ohnehin kaum noch
auf Papier geschrieben werden wird. Die Zukunft gehört der Tastatur. Die
schreibt bekanntlich ohne unser Zutun gestochen leserlich auf das Display. Wozu
eigentlich noch analog schreiben lernen? Demnächst wird ja auch die Signatur
durch den Fingerabdruck ersetzt.
Machen wir es also kurz:
Richtschnur ist, was der Typografie einer Tastatur nahekommt. Schreiben wird
zum Zeichnen von Buchstaben. Es läuft alles aufs Tippen hinaus. Und die letzte
fliessende Bewegung beim Schreiben bleibt dem Bildschirmwischen vorbehalten.
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