Trotz Ankündigungen zur Besserung wächst die Reformflut ständig, Bild: Cortis & Sonderegger
Umstrittene Schulreformen und groteske Vorschriften: Lehrer haben die Nase voll, Annabelle, 18.11. von Barbara Achermann
Georg Geiger ist Lehrer an einem Gymnasium in Basel. Wenn
er erklärt, was für ihn gute Schule ist, erzählt er von unplanbaren
Situationen. «Es war am frühen Morgen, erste Lektion. Als ich das dunkle
Schulzimmer betrat, lagen die Jugendlichen halb auf den Tischen, einige
schienen zu schlafen.» Geiger ist 57 Jahre alt und weiss aus Erfahrung,
motivierte Schüler sehen anders aus. Er will mit ihnen das Höhlengleichnis von
Platon lesen, schreitet zum Lichtschalter. «Nein, machen Sie nicht an», bettelt
eine Schülerin. Grossartige Idee, denkt er und liest den Text im Dunkeln vor.
Geiger erzählt, es habe sich eine engagierte Stunde entwickelt, und er fügt an:
«Gute Schule entsteht oft in einem flüchtigen Moment.»
Seine
Art von Unterricht, so Geiger, sei nicht mehr erwünscht. Er beugt sich vor,
denn es ist laut im Café Mitte, seine nach hinten gekämmten Haare fallen ihm
ins Gesicht: «Diejenigen Leute, die heute die Lehrpläne machen und die
Lehrerausbildungen bestimmen, können nichts mit meinem Unterrichtsstil
anfangen.» Was seine Schüler über Platons Philosophie gelernt haben, sei weder
mit einem Multiple-Choice-Test abfragbar noch eins zu eins anwendbar. Man könne
mit diesem Wissen kein konkretes Problem erfolgreich lösen. Doch genau das
werde heute von den Bildungsbehörden verlangt. «Sogenannte Experten verfahren
mit der Bildung wie mit dem Vieh im Schlachthof», sagt Geiger. Der Stoff werde
auseinandergenommen und in Einzelteile zerlegt. Komplexe Prozesse würden so weit
vereinfacht, bis nur noch kleinste abfragbare Einheiten übrig blieben.
Melanie
Capaul ist Kindergärtnerin im Kanton Aargau und 38 Jahre alt. Sie sagt, sie
arbeite mit Herz und Intuition. Ihr Kindergarten soll ein Ort sein, an dem sich
die Kinder geborgen fühlen. Ab und zu ein Rechenspiel macht sie gern, aber sie
ist dagegen, die Kinder auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zu trimmen. Wie alle
Kindergärtnerinnen der Nordwestschweiz muss sie seit diesem Jahr einen
standardisierten Lernbericht für jedes Kind ausfüllen, 72 Kreuze auf einer
Skala von 1 bis 4. Die vorgegebenen Fragen behandeln Kinder wie Arbeitnehmende.
«Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig», steht da oder «Das
Kind kommt in der vorgegebenen Zeit zu einer Lösung oder einem Produkt». Capaul
sagt: «Ich bin schon froh, wenn die Vierjährigen allein auf die Toilette
gehen.»
Beim
Elterngespräch würden die Lernberichte mitunter zu grotesken Situationen
führen. Anstatt dass man darüber rede, wie sich das Kind in der Gruppe verhalte
oder weshalb es motorische Schwierigkeiten habe, werde über unwichtige Details
diskutiert. Etwa darüber, weshalb das Kreuzchen bei der Frage «Das Kind kann
auf einem Bein stehen und hüpfen» nicht weiter rechts stehe.
Lehrer
haben den Ruf, sie seien Jammerlappen. Doch Georg Geiger und Melanie Capaul
nörgeln nicht, ihre Kritik ist nachvollziehbar und lässt aufhorchen. Hört man
sich in verschiedenen Kantonen um, so klingt es überall ähnlich: Lehrerinnen
und Lehrer fühlen sich durch die Behörden bevormundet. Einerseits sind es die
zunehmenden Vorschriften und Verbote, die sie in ihrer Autonomie einschränken,
andererseits die vielen Schulreformen, die keinen Stein auf dem anderen lassen.
Befasst
man sich mit dem Schweizer Schulwesen, so stolpert man unweigerlich über den
Begriff «Kompetenz». Es ist das neue Zauberwort, das die Lehr- und Studienpläne
umkrempelt. Die Kompetenztheorie ist die Grundlage für den neuen
Bewertungsbogen, der Kindergärtnerin Capaul missfällt, und für Lehrmittel und
standardisierte Tests (wie «Check» oder «Cockpit»), die Lehrer Geiger
beanstandet. Auch Wissenschafter kritisieren die Kompetenzorientierung im
Bildungswesen. Einer der Prominentesten ist Konrad Paul Liessmann,
Philosophieprofessor an der Universität Wien. In seinem soeben erschienenen
Buch «Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung» erklärt er, woher die
Kompetenzorientierung kommt: nicht etwa aus der Pädagogik, sondern aus der
Ökonomie. In der Wirtschaft wurden Modelle entwickelt, um die Kompetenz von
Mitarbeitenden zu messen und deren Einsatz im Unternehmen zu optimieren. Genau
diesen Gedanken verfolgt laut Liessmann nun auch das Bildungswesen: Alles, was
man in der Schule lernt, müsse unmittelbar brauchbar sein, um erfolgreich
Probleme zu lösen. Wozu sich also noch mit Platons Philosophie beschäftigen?
Auf
die Spitze getrieben wird die Kompetenztheorie im Lehrplan 21. Der neue
Lehrplan wurde am 7. November veröffentlicht und soll in den kommenden Jahren
in den deutschsprachigen Kantonen eingeführt werden. Er ist 470 Seiten lang und
listet über 2000 sogenannte Kompetenzstufen auf. Früher war der Lehrplan ein
Wegweiser für die Lehrpersonen, heute ein Blindenführer, ohne den sie keinen
Schritt mehr machen dürfen. Das führt dazu, dass jede noch so
selbstverständliche Fähigkeit benannt werden muss, wie: «Die Schülerinnen und
Schüler können ihre Aufmerksamkeit auf sprechende Personen und deren Beitrag
richten.» Und zu kaum verständlichen Zielvorgaben wie: «Die Schülerinnen und
Schüler können in kooperativen Situationen über ihre Texte ihr Repertoire an
Schreibstrategien reflektieren und ausbauen.» Doch was Kompetenzen genau sind
und inwiefern sie den Unterricht verändern werden, darüber streitet man sich
selbst in Fachkreisen.
Alain
Pichard ist Reallehrer und Stadtrat in Biel, 59 Jahre alt und exponiert sich ab
und zu mit provokativen Aussagen in den lokalen Medien. Er hat die vielen
Reformen satt. Er möchte sich auf seine Schüler konzentrieren, muss sich aber
ständig mit strukturellen Fragen befassen. Er ist nicht grundsätzlich gegen
Neuerungen, beispielsweise mag er das Unterrichten im Team. Aber die
zahlreichen von oben verordneten Anweisungen ärgern ihn: «Formulare,
Lernberichte, Strategiekonzepte, Neuordnungen – ich kann das nicht mehr hören.
Wir reden über alles, nur nicht über Pädagogik.» Pichard erzählt von einem
Evaluationstag zur letzten Reform, der Integration von behinderten und
verhaltensauffälligen Kindern in Regelklassen. Die Schüler hatten frei, die
Lehrer mussten ein «wertschätzendes» Feedback geben. Die erste Frage lautete: «Was
hat Ihnen während der Umsetzung am meisten Freude bereitet?» Pichard lacht
höhnisch: «Das war eine teure Alibiübung, mehr nicht.» Er hätte in dieser Zeit
lieber mit seiner Klasse Bewerbungsschreiben geübt. Er sagt: «Die Schule ist
ein Boot, das alle steuern wollen, aber keiner mag mehr rudern.» Es gebe zu
viele Leute in den Verwaltungsbüros und zu wenige in den Schulhäusern. Pichard
geht noch weiter, er wirft den Behörden «Ressourcenklau» vor. Während Lektionen
abgebaut und Klassen vergrössert würden, wachse die Bildungsverwaltung.
Schweizweite Zahlen, die seine Äusserung belegen, existieren keine. Aber es
gibt Statistiken einzelner Kantone, die in diese Richtung weisen. In Basel
beispielsweise sind in den vergangenen acht Jahren die Schülerzahlen leicht
gesunken, die Stellen in der Verwaltung hingegen haben um einen Viertel
zugenommen.
Walter
Herzog hat Verständnis für den Überdruss von Lehrpersonen wie Pichard, Capaul
oder Geiger. Er ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität
Bern und hat eine öffentliche Stellungnahme mitunterzeichnet: «Stopp der
Reformhektik im Bildungswesen!» steht da. Es braucht viel, bis Wissenschafter
in einem Titel ein Ausrufezeichen setzen. Diesen Aufschrei aber haben zehn
namhafte Experten unterschrieben, darunter auch Allan Guggenbühl, Remo Largo
und Roland Reichenbach. Sie schreiben weiter: «Zu viel Verwaltung geht auf
Kosten der Bildung!»
Herzog
sieht nicht aus wie ein Rebell. Er hat weisse Haare, einen Schnauz und spricht
mit gedämpfter Stimme. Seine Worte aber sind deutlich: «Die Bildungsverwaltung
vertraut auf die Weltwirtschaftsorganisation OECD anstatt auf die Erfahrungen
der Lehrerinnen und Lehrer.» Die Reformen seien auf die Bedürfnisse der
Wirtschaft ausgerichtet und nicht auf die der Kinder. Das gelte auch für den
Lehrplan 21. Herzog prophezeit, die Überprüfung der mehreren Tausend
Kompetenzen werde eine riesige Bürokratiewelle auslösen und führe zum
sogenannten Teaching to the Test. Anstatt den Schülern eine breite Bildung zu
vermitteln, werden sie auf das Lösen von standardisierten Prüfungsaufgaben
getrimmt. Vergleichbar sind diese mit den Kreuzchentests für den Fahrausweis:
Büffelt man die Fragen auswendig, besteht man. «Über das testorientierte
Unterrichten gibt es diverse wissenschaftliche Studien», so Herzog, «vor allem
aus den USA.» Dort versuche man schon länger, Wissen einheitlich zu testen und
zu vergleichen, wende sich aber bereits wieder von den Monitorings und Rankings
ab. Weshalb also in der Schweiz etwas einführen, mit dem die USA bereits schlechte
Erfahrungen gemacht haben? Es erstaunt wenig, dass der Lehrplan 21 an der Basis
zu Protesten führt. Herzog sagt: «Änderungen im Schulwesen sollten von unten
kommen und nicht von oben delegiert werden.» Man müsste die Lehrerinnen und
Lehrer dabei unterstützen, ihre eigenen Methoden weiterzuentwickeln.
Elsbeth
Schaffner ist Primarlehrerin im Kanton St. Gallen. Vor sieben Jahren wurde dort
nach dem Frühfranzösisch auch das Frühenglisch eingeführt. Schaffner, 53 Jahre
alt, war von Anfang an dagegen, und sie war nicht die Einzige: «Die meisten
Lehrerinnen und Lehrer hatten Bedenken. Doch die Erziehungsdirektorenkonferenz
hielt an ihrem Frühsprachenkonzept fest.» Es wurde behauptet, jüngere Kinder
lernten Fremdsprachen schneller. Heute belegen Studien das Gegenteil. Im
Unterricht lernen Oberstufenschüler in wenigen Wochen so viel wie
Unterstufenschüler während Jahren. In St. Gallen und in anderen Kantonen
diskutiert man jetzt darüber, die frühen Fremdsprachen wieder abzuschaffen. Die
unzähligen Aus- und Weiterbildungen, die Anschaffung der Lehrmittel, die
stundenlangen Vorbereitungen auf das neue Fach, das alles hat Millionen von
Franken gekostet – und viele Nerven. Es war vermutlich umsonst.
Seit
Jahren wehren sich die Lehrerverbände gegen die Reformflut und die damit
verbundene Bürokratisierung der Schule. Genützt hats nichts. Im Gegenteil, die
Kadenz der verordneten Neuerungen wird immer höher, die Reglementierungswut
grösser. Das zeigt sich bereits im Kleinen. In manchen Kantonen sind
Süssgetränke und Geburtstagskuchen an den Schulen verboten, ebenso der
Ausschank von Alkohol an Lehrer oder Eltern am Schulfest. Ein Ausflug an den
Hallwilersee? Nicht erlaubt. Lehrpersonen ohne Rettungsschwimmerausbildung ist
es untersagt, mit ihren Klassen ans Wasser zu gehen. Das führt zur absurden
Situation, dass man selbst auf der Maturreise nicht mehr in die Badi darf. Neue
Regeln werden in regelmässigen Abständen aufgestellt. Das Volksschulamt im
Kanton Zürich etwa verbreitet sie unter dem Euphemismus Leitungszirkular. Pro
Monat werden drei bis fünf neue Anweisungen herausgegeben, denen, so heisst es
auf der Website streng, «die Adressaten Folge leisten müssen».
Roger
von Wartburg ist Sekundarlehrer und Präsident des Baselbieter Lehrerverbands,
38-jährig und leidenschaftlicher Sänger. Er sagt: «Die Lehrer, die mich
prägten, waren alle verschieden. Jeder hatte seinen eigenen Stil und war auf
seine Art authentisch.» Doch heute wolle man alle Lehrpersonen gleichmachen,
sie sollen unhinterfragt Weisungen umsetzen. Kürzlich hat die kantonale
Schulbehörde eine dicke Broschüre zum Thema Teamarbeit herausgegeben. Sie
sorgte für grossen Unmut. «Wir Lehrer arbeiten bei Bedarf seit Jahren in Teams.
Man braucht uns nicht im Detail vorzuschreiben, wann, wie und mit wem», so von
Wartburg. Eine weitere Vorschrift, die ihm widerstrebt, betrifft die
Elterngespräche. Sie müssen neu zwingend einmal pro Jahr stattfinden und genau
nach Vorschrift ablaufen. Er fragt sich: «Wenn der Schüler gute Noten hat,
zufrieden ist und seine Eltern kein Gespräch wünschen, wozu müssen wir uns dann
treffen?» Wenn hingegen ein Jugendlicher Schwierigkeiten habe, führe er
selbstverständlich innert kurzer Zeit mehrere Gespräche. Von Wartburg wünscht
sich, dass die Verwaltung weniger reglementiert. «Gestandene Berufsleute darf
man nicht entmündigen», so von Wartburg.
Den
Lehrerinnen und Lehrern in der Schweiz wird nicht mehr vertraut. Aber sie sind
nicht die Einzigen. Auch Ärzte, Pfarrer oder Professoren haben an
Glaubwürdigkeit eingebüsst. Das ist nicht nur schlecht. Noch vor einem halben
Jahrhundert konnten Lehrer ihre Schüler blossstellen oder schlagen. Die
Loyalität der Eltern und Behörden lag jenseits der Schmerzgrenze. Das ist heute
zum Glück anders. Roland Reichenbach erklärt, es habe ein Demokratisierungsprozess
stattgefunden. Er ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität
Zürich und spricht ein überraschend schnelles Berndeutsch. Reichenbach hat
sowohl Verständnis für die Bildungsbehörden als auch für die Lehrerinnen und
Lehrer: «Es ist keine dumme Idee, dass die Lehrpersonen transparent arbeiten
und Rechenschaft ablegen. Die Behörden müssen verantworten können, wofür die
staatlichen Gelder ausgegeben werden.» Reichenbach bescheinigt den Behörden
edle Motive: «Die wollen nur das Beste.» Aber: «Manchmal übertreiben sie.» Es
herrsche eine Kontrollwut. Diese sei aber unbegründet, die meisten Lehrer
machten ihre Arbeit gut.
Reichenbach
stellt fest, dass die Rolle des Lehrers geschwächt wird. In der Sprache der
Lehrplanmacher soll der Lehrer nur noch Coach sein, ein Gestalter der
Lernumgebung und Begleiter von Lernprozessen. Reichenbach hingegen ist der
Meinung, die Lehrperson müsse im Mittelpunkt des Unterrichts stehen.
«Leadership», sagt Reichenbach und legt eine Kunstpause ein, «darum sollte es in
der Schule gehen. Aber was heute vorangetrieben wird, ist nicht Leadership,
sondern Management.» Der Unterschied? «You manage Things. You lead People.»
Reichenbach
wünscht sich, dass man dem Bewährten wieder mehr Beachtung schenkt. Aber anders
als die konservativen Bildungspolitiker will er keine rückständige
Anker-Schule, sondern eine bedachte Weiterentwicklung der Pädagogik. Die
Bildungsbehörde sei durch die rasanten Veränderungen in der Gesellschaft
verunsichert und packe deshalb die Lehrpläne voll mit neuen Inhalten. Sie
müsste aber gerade jetzt für Ruhe sorgen. Er erklärt weshalb: «Für viele Kinder
ist die Schule der einzige Ort für Verlässlichkeit, ein Ort, den sie vielleicht
nicht lieben, an dem manche sich langweilen und andere sich überfordert fühlen,
aber eben auch ein Ort, an dem sich Erwachsene um sie kümmern.»
Schule
kann nur gelingen, wenn der Mensch vorne an der Tafel motiviert ist. Es hängt
entscheidend von ihm ab, ob die Schüler etwas lernen. Selbst wenn ihm die
Behörden noch so viele Vorschriften machen, diese Verantwortung können sie ihm
nicht abnehmen. Aber sie können ihm die Lust rauben. Denn Dienst nach
Vorschrift macht den wenigsten gut ausgebildeten, intelligenten Menschen Spass.
Die guten Lehrer wollen ihren Unterricht frei gestalten, selbstständig
Entscheidungen treffen, Projekte umsetzen. Sie wollen im Dunkeln Platon
vorlesen und danach frei diskutieren.
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