28. Dezember 2014

Die aussergewöhnlichste Schule der Schweiz

Die aussergewöhnlichste Schule der Schweiz liegt im Kanton Schwyz. Dort dürfen die Kinder tun, was sie wollen - und lernen trotzdem lesen, schreiben und rechnen. 




Lieber tanzen als die Schulbank drücken, Bild: Christine Bärlocher


Schule ohne Lehrer, NZZaS, 28.12. von Sibylle Stillhart


«Grüezi» sagt hier kaum jemand. «Die Kinder sind es nicht gewohnt, dass man sie mit Worten begrüsst oder dass sie Guten Tag sagen müssen», erklärt Rosmarie Scheu, während sie durch das alte Herrenhaus führt, in dem die Villa Monte untergebracht ist. Es ist Donnerstagmorgen, kurz vor halb neun. Immer wieder tröpfeln Schüler ein, wuseln an der Schulleiterin vorbei, hechten die Treppe hoch, verschwinden irgendwo. Die meisten Kinder, die hier auf einem Hügel oberhalb der 5000-Seelen-Gemeinde Galgenen (SZ) zur Schule gehen, sind bereits hier. Sie sitzen in Grüppchen um die vielen Holztische, sind vertieft in ein Gesellschaftsspiel oder ins Basteln, andere blättern in Büchern.
«Rosie, wo ist das Lexikon?», fragt ein Knabe. «Wann können wir heute ins Turnen?», will ein anderer wissen. Wo auch immer sie auftaucht, wird Rosmarie Scheu sofort in Beschlag genommen. «Eine Laufmasche!», jammert ein Mädchen. «Könntest du mir bitte helfen?» Sie reicht ihr die beinahe fertig gestrickte Mütze. «Dürfen wir kochen?», fragen zwei andere Schülerinnen.

Einzige Regel: Hausschuhe
Bis jedes Kind das gefunden hat, was es möchte, hat Rosmarie Scheu alle Hände voll zu tun. Die 63-jährige Schulleiterin lässt sich von dem Gestürm aber nicht aus der Ruhe bringen, denn unter Schule versteht sie etwas komplett anderes als der Volksmund: In der Villa Monte gibt es weder Schulbänke noch Klassenzimmer, weder Lektionen noch Unterricht und schon gar keine Stunden- oder Lehrpläne. Zwar sind für die Primar- und Sekundarschule vier ausgebildete Lehrpersonen und zwei Praktikanten angestellt. Doch die «Erwachsenen des Hauses», so nennen sich die Lehrer, bleiben im Hintergrund. Sie bieten nur dann Hilfe an, wenn die Kinder danach verlangen. Auch gibt es kaum Regeln, welche die Schüler befolgen müssen: «Wir verlangen von den Kindern nur, dass sie die Hausschuhe anziehen, sobald sie ins Haus kommen. Sonst kann hier jedes Kind tun, was es möchte.»
An diesem Morgen ist das Wetter garstig, die Kinder bleiben drinnen. Eine Handvoll zehnjähriger Buben versteckt sich in einem Zimmer hinter einem Vorhang aus Tüchern, jeder ausgerüstet mit einer «Holz-Knarre». Die Waffen würden sie brauchen, erzählt einer der Buben, weil sie ihre Beute in ihrer Räuberhöhle bewachen. Im Zimmer nebenan studieren zwei Mädchen eine Showeinlage ein. Sie wechseln ihre Kostüme so oft wie den Tanzstil - was eine bunte und eindrückliche Performance ergibt. Im obersten Stock sind die Sekundarschüler untergebracht. Einige sitzen noch etwas müde in der Bibliothek. Zwei kuscheln sich auf der Couch aneinander, andere hängen lässig in den Polsterstühlen. Unten im Nähzimmer sind rund zehn Mädchen damit beschäftigt, Wollmützen zu stricken oder Topflappen zu häkeln.
Obschon es keine Hausordnung gibt, ist es im Haus mittlerweile angenehm ruhig, die Stimmung friedlich und locker. So locker, dass man sich unweigerlich fragt: Lernen die Schüler hier auch etwas? Können sie lesen, schreiben oder rechnen? Rosmarie Scheu sitzt nun im Nähzimmer, sie lächelt bei der Frage. «Sie lernen es irgendwann, meistens nebenher», erklärt sie. Wer von ihren derzeitigen Schützlingen schon so weit ist, kann sie nicht sagen. Viele könnten es schon mit fünf Jahren, andere erst mit zehn. Sie lernten es aus Freude, aus eigenem Interesse oder weil sie bei den Kollegen abschauten. Und interessiert sich ein Schüler partout nicht für Buchstaben oder Zahlen, ist das kein Grund zur Panik. Der Leitsatz der Villa Monte lautet: «Jeder weiss es für sich.» Schliesslich, ist Scheu überzeugt, werde jeder seinen Weg finden. Sie weiss aber auch, dass dieser Ansatz von den Eltern mitunter sehr viel Geduld und viel Vertrauen in ihr Kind verlangt.
In der Villetta, gleich neben dem Hauptgebäude, sitzen die Schüler der 3. Sek beim Znüni. Sie kochen Tee und streichen Honigbrote. Wie finden sie das, dass kein Notendruck herrscht und keinerlei Erwartungen an sie gerichtet werden? «Cool!», sagt der 16-jährige Lauro. «Es macht mich frei.» Es sei manchmal schwierig zu verstehen, wenn ihnen Freunde von ihren Schulproblemen erzählen, meint ein Mädchen. «Das kennen wir hier in der Villa Monte nicht.» Alle Sekundarschüler haben ihre gesamte Schulzeit hier verbracht, doch nun wollen sie etwas Neues entdecken, den Schritt ins Berufsleben wagen. Marvina will Bootsbauerin werden, Adon Informatiker, Lou Buchhändlerin und Elischa Skiverkäufer. Die Jugendlichen sind voller Tatendrang; im Gespräch äussern sie sich offen und respektvoll.
Vor gut 30 Jahren hat Rosmarie Scheu, die selber eine Ausbildung in Montessori-Heilpädagogik absolviert hat, die Villa Monte als Kinderhaus gegründet. Seither ist die Institution gewissermassen mit ihren Besuchern gewachsen: 1991 wurde zusätzlich eine Primarschule ins Leben gerufen, fünf Jahre später eine Sekundarschule. Mittlerweile besuchen über hundert Kinder die Villa, gut ein Drittel wird, weil sie noch nicht 6 Jahre alt sind, im Kinderhaus im Parterre betreut. Das Schulgeld beläuft sich auf 1200 Franken im Monat.
Heute leitet Scheu die Villa Monte mit ihrem Partner Harry Kool, der gerade dabei ist, die Tische für das Mittagessen zu decken. Dass ihr Schulmodell einzigartig ist, ist den beiden bewusst. Damit missionieren wollen sie nicht. «Wir können aber zeigen, was es braucht, damit Kinder sich wohl fühlen und selbstbestimmt aufwachsen», sagt Kool.
Davon liess sich sogar der konservative Kanton Schwyz überzeugen. 1995 erteilten die Behörden der Villa Monte die offizielle Bewilligung als Privatschule. «Wir haben gesehen, dass die ehemaligen Schulabgänger in der Berufswelt Tritt gefasst haben», begründet Schulinspektor Hans-Peter Bertin. «Das zeigt, dass auch ein solches Schulmodell funktionieren kann.» Allerdings hat der Kanton die Bestimmungen für Privatschulen vor einigen Jahren verschärft, er will deren Qualität und Infrastruktur fortan verbindlicher definieren und überprüfen. Inwieweit die Villa Monte darin noch Platz hat, wird derzeit von den Behörden erörtert. Dabei will der zuständige Erziehungsrat im nächsten Jahr selber bei der Schule vorbeischauen, um sich ein Bild zu machen.
Tatsächlich haben die Abgänger der Villa Monte keine Mühe, den Anforderungen der Berufswelt zu genügen. Ein Fünftel von ihnen absolvierte die Matura oder ergriff eine andere weiterführende Ausbildung. Viele Ehemalige berichten zwar, dass sie beim Übertritt schulische Defizite aufwiesen, vor allem bei Fremdsprachen und in Mathematik. Diese hätten sich aber in kurzer Zeit problemlos kompensieren lassen.

Berufswahl zweitrangig
Und so wurde aus den früheren Villa-Monte-Schülern, was auch in den Lebensläufen anderer Volksschüler steht: Metallbauzeichner, IT-Unternehmer, Koch, Unternehmensberaterin, Golflehrer, Floristin, Psychologin oder Werkstoffingenieur. Dass einer ihrer Schützlinge arbeitslos oder sozialhilfeabhängig wäre, ist den beiden Leitern der Schule nicht bekannt. Ohnehin ist für sie aber die Berufswahl der Abgänger nur zweitrangig. Wichtiger ist ihnen, dass aus ihren Schülern glückliche, rücksichtsvolle und tolerante Menschen werden.
Mittagszeit. Die Erwachsenen tragen in der Villa Monte das Essen auf. Es wird dort gegessen, wo sonst gespielt wird. Sobald die Früchte, die es zum Nachtisch gibt, verspeist sind, rennen die ersten wieder vom Tisch. Danach geht es weiter im Spiel - bis um 16 Uhr die Kinder ermahnt werden müssen, es sei nun Zeit, nach Hause zu gehen.

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