26. März 2015

Keine Fragen, keine Kritik, keine Debatte

Im zweiten Teil seiner Serie über die Rolle der Lehrerverbände angesichts des Lehrplans 21 geht Fritz Tschudi ins Gericht mit dem Bündner Lehrerverband LEGR. 



Lehrerverbände - Back to the Roots, von Fritz Tschudi, 24.3.


„Ein bestimmter Inhalt fasziniert, lässt nicht mehr los und erhält dadurch eine Verbindlichkeit, …auf die der Mensch … genötigt ist, durch die Ausbildung bestimmter Kompetenzen zu antworten, um dem Anspruch der Sache gerecht werden zu können.“
„Genau um diese Faszination, die von einer Sache,… einer Frage ausgehen kann, werden kompetenzorientiert unterwiesene Kinder und Jugendliche gebracht; sie werden damit um die Chance betrogen, überhaupt ein substanzielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Gerade die viel gerühmte „Selbstkompetenz“ erweist sich als ungeheuerliches Betrugsmanöver, an dessen Ende die Phraseologie des Selbst jede Art der Selbsterkenntnis sabotiert.“

Dieser kleine Auszug aus „Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung“ von Prof. Konrad Paul Liessman (Uni Wien), zeigt, wie fahrlässig und verantwortungslos es erscheinen muss, sich als Fachperson der Debatte um die Kompetenzorientierung des neuen Lehrplans bewusst zu entziehen.

Jede Reform beinhaltet Zündstoff. Wenn wir Vertrauen gefährdende Reformdiktate verhindern wollen, müssen wir ernst machen und uns aktiv um gründliche Informationen und fundierte Debatten kümmern. Wie im ersten Teil gezeigt, liegt die Verantwortung hierfür ganz wesentlich bei den Lehrerverbänden.

Nach längerer Beobachtung des einseitigen Gebarens der Geschäftsleitung unseres Vereins  „Lehrpersonen Graubünden“ (LEGR), dem ich seit 48 Jahren angehöre, beschloss ich, einige Fragen und Anregungen an die Verantwortlichen zu richten. Der Auslöser für meine „Intervention“ war die Themennummer des „Bündner Schulblatts“ (August 2014) zum Lehrplan 21, unter dem Titel „Kompetenzorientierung“. Hier kamen aber ausschliesslich Befürworter aus der PHGR und einige sonstige Propagandisten (u.a. zum Konstruktivismus) zu Worte:

Die Kompetenzorientierung des LP21 wurde als absolut unverzichtbar dargestellt, „woran kein Weg vorbeiführt“, wohl auch in der Hoffnung, einmal mehr jeden Diskurs im Keime zu ersticken. Weiter erfuhr der Leser im Beitrag „Vom Ausgeliefert-Sein zur Selbstwirksamkeit“ nur Gutes über den konstruktivistischen „Unterricht“. Schliesslich wurden die Bündner Lehrpersonen in einem weiteren Text darüber belehrt, dass Menschen lernfähig – aber unbelehrbar (!) seien.

·        K e i n e  Fragen, k e i n e  Kritik, k e i n e  Debatte

Mein Bemühen um ein vereinsinternes Umdenken blieb ohne substanzielle Antwort. Im Austausch per E-Mail erreichten mich hauptsächlich Floskeln, welche das Verhalten der Geschäftleitung als offen und vorbildlich, keinesfalls aber als kritikwürdig erscheinen liess. Die Verbandsleitung empfand meine Fragen und die konkreten Anregungen offensichtlich als inakzeptable Zumutung in einer verfehlten „Tonalität“. Offensichtlich sollte der Störenfried möglichst umgehend und still zum Schweigen gebracht werden.

Wenn der Lehrerverband als potenzieller Vetoplayer den Job der Propagandisten macht, ist ihm kollegiales Schulterklopfen von dieser Seite sicher. Damit aber hat sich’s, Handfeste Zugeständnisse an die Bedürfnisse der Lehrerinnen und Lehrer bleiben Wunschdenken, weil devotes Verhalten als Schwäche interpretiert wird. Das weiss jeder Gewerkschafter.

Was die Öffentlichkeit zum LP21 & Co. via „Bündner Schulblatt“ bisher erfahren konnte, muss als von Naivität triefender Support zugunsten der Propagandisten gewertet werden. Es ist zu vermuten, dass die Mehrheit der Bündner Lehrpersonen wenig Ahnung hat, welche konkreten Veränderungen durch die Kompetenzorientierung und den pädagogischen Konstruktivismus auf sie zukommen werden. Wenn selbst die aktuell laufende Umpolung des bildsamen Unterrichts in sein pures Gegenteil nicht ausreicht, die Verantwortlichen aus ihrer Problemresistenz zu erwecken, wird der hiesige Lehrerverein unaufhaltsam weiter zur Manipuliermasse verkommen.

Ins Repertoire der Verbandsleitung gehört endlich ein Update der Selbstkompetenz. Eigenständige Beurteilung von Neuerungen, selbstbewusstes Auftreten, sowie Beharrlichkeit bei Verhandlungen sind matchentscheidend. Erziehungswissenschaft bietet keine fixen Wahrheiten, welche jede Debatte erübrigen könnten. Ganz im Gegenteil, ausgewogene Informationen und Diskurse sind unverzichtbar, denn erziehungswissenschaftliche Aussagen sind im bildungspolitischen Kontext Meinungen unter anderen.

·        Dem Bündner Lehrerverband fehlt das Musikgehör

Anregungen zur Entwicklung des Musikgehörs: Haben die Ansprüche und Erwartungen der Schule und der Mitglieder Priorität? Zeigen die Verbandsverantwortlichen die Bereitschaft, Zumutungen des  pädagogischen Mainstreams oder Bevormundungsversuche durch die PH gehörig in die Schranken zu weisen? Weiss die Verbandführung um die „wackelige“ Wissenschaftlichkeit mancher Reformen (z.B. Kompetenzorientierung/ Konstruktivismus)? Akzeptiert sie die Umsetzung von Reformen ohne Nachweis einer klar positiven Praxis? Akzeptiert sie widerspruchslos die Eingriffe der OECD in unsere Bildungs-Souveränität, die zunehmende Zentralisierung im Volksschulwesen, Machenschaften mit fraglicher politische Legitimation, die wachsende Chancenungerechtigkeit, die dramatische Zunahme der Lerndefizite an den Schulen, ideologische Willkür, den Trend zur Gleichschaltung der Lehrpersonen, die Macht der theoretischen Wissenschaften im Bildungs- und Erziehungsbereich, den wachsenden Ausschluss der Bürger aus der Mitverantwortung im Volksschulwesen, top-down Diktate bei Reformen, die zunehmende Bevormundung der Lehrpersonen, die schleichende Abschaffung der Methodenfreiheit?

In dieser Situation entschied ich mich für die Publikation eines „Offenen Briefes“ in der Tageszeitung „Südostschweiz“ (SO). Die Redaktion der SO nahm die Fragen zum Anlass, gleichzeitig einen eigenen redaktionellen Artikel zum Thema zu schreiben (erschienen am 22.08.2014).

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, beurteilen Sie bitte selbst, ob meine Fragen an die Geschäftsleitung des LEGR und an die Redaktion des „Bündner Schulblatts“ es rechtfertigen, jegliche Antwort zu verweigern.

(Auszug: Die Fragen)

  • Weshalb begünstigen Sie durch Ihre Autorenwahl, eine Propagandaaktion zugunsten der höchst umstrittenen  Mainstreampädagogik?

  • Warum  findet sich kein einziger kritischer Beitrag zur Sicherstellung der Ausgewogenheit?

  • Weiss die Redaktion um die Tatsache, dass eine Fülle seriöser Autoren (auch wissenschaftliche) zur Verfügung steht, welche die aktuellen pädagogischen „Glaubensbekenntnisse“ widerlegen bzw. relativieren könnten?

  • Sind Sie sich der Tatsache bewusst, dass die Kompetenzorientierung eines neuen Lehrplans nicht nur verzichtbar, sonder in wesentlichen Belangen von Vorteil wäre?

  • Sind Sie sich Ihrer Pflicht bewusst, die Meinungsvielfalt und die Diskurse zu zentralen pädagogischen und schulpolitischen Themen im Interesse der Sache anzuregen?

  • Sind Sie sich bewusst, mit der aktuellen Publikationskultur das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit als Interessenvertretung von Schule und Lehrerschaft nachhaltig zu beschädigen?

Ich hoffe nicht, dass der Vorstand „Lehrpersonen Graubünden“ (LEGR) darauf stolz wäre, sich als fremd gesteuertes Instrument um die geistige Ruhigstellung der von ihm vertretenen Lehrerschaft zu bemühen. (Ende Auszug)

Der Präsident verkündete denn auch umgehend den Beschluss der Geschäftsleitung, auf die öffentlich gestellten Fragen nicht einzugehen.

Der Verband ist aber daran zu erinnern, dass er im Unterschied zu einem Jassclub mit in der öffentlichen Verantwortung steht.
Die Verweigerung einer Stellungnahme ist darum nicht nur despektierlich gegenüber dem Fragensteller, sondern auch Ausdruck der Geringschätzung der Öffentlichkeit.


Im abschliessenden Teil 3 berichte ich über Turbulenzen im “Wolkenkuckucksheim”.

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