20. März 2015

Schlechte Noten für Zürcher Schule

Eine Langzeitstudie zeichnet ein kritisches Bild der Zürcher Sekundarschule: Im Fach Mathematik lernen Jugendliche kaum dazu, soziale Nachteile werden verstärkt, und die Motivation rasselt in den Keller.





Insgesamt 1600 Schüler wurden während ihrer gesamten Schulzeit begleitet, Bild: Simon Tanner

Die Schule braucht Nachhilfe, Tages Anzeiger, 19.3. von Daniel Schneebeli



Bereits die letzte Pisa-Studie hat für Zürich keine guten Ergebnisse hervorgebracht. Fast durchwegs schlossen die Zürcher Schüler im Vergleich mit anderen Schweizer Kindern unterdurchschnittlich ab. Nun zeichnet eine weitere Studie ein unvorteilhaftes Bild. Das Institut für Bildungsevaluation an der Uni Zürich hat rund 1600 Zürcher Kinder durch ihre ganze Schulzeit begleitet. Es hat sie nach drei, sechs und neun Schuljahren getestet und über ihre Fortschritte in Deutsch und Mathematik Buch geführt. Die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung hat diese Woche auf die Studie hingewiesen.
Die Auswertung der Tests zeigt, dass die Jugendlichen ihr Wissen in den letzten drei obligatorischen Schuljahren nicht stark vermehren konnten – weder in der Sekundarschule noch im Langzeitgymnasium. Speziell gilt dies im Fach Mathematik. Hier konnten die Jugendlichen in drei Jahren nur noch gut 40 Punkte zulegen. Die ­Experten zeigen sich erstaunt: «Dieses Resultat lässt aufhorchen», heisst es im ­Fazit der Studie. Der Lehrplan und der Unterricht seien in der Sekundarschule ungeeignet, um die mathematischen ­Fähigkeiten wesentlich zu steigern.
Der Studienleiter Urs Moser sieht das Problem vor allem in der Art der Stoffvermittlung. In der Primarschule werde mehr geübt, zudem würden die Themen in späteren Schuljahren wieder aufgegriffen, vertieft und erweitert. Das sei in der Sek nicht der Fall. «Dort wird von einem Thema zum anderen gehüpft», sagt Moser. Das Wissen werde in der Sek zu wenig gefestigt. Die Experten hoffen nun auf Besserung mit dem Lehrplan 21.
Muttersprache unerheblich
Negatives haben sie auch zur Entwicklung der Motivation festgestellt. Über die ganze Schuldauer nimmt sie ab. Dies sei teils ein entwicklungspsychologisch «natürlicher Prozess». Zudem würden steigende Anforderungen die Schulfreude dämpfen. Besonders stark nimmt die schulische Motivation der Langzeitgymnasiasten ab. Die Forscher führen dies darauf zurück, dass sie sich in der neuen Klasse mit lauter guten Schülern behaupten müssen und dort nicht mehr automatisch die Besten sind. Unter dem Strich bleibt aber die Motivation der Gymnasiasten höher als jene der Sek-A- und -B-Schüler.
Unterschiedlich entwickelt sich die Motivation auch in den Fächern. Im Deutsch bleibt sie in den Sekundarschuljahren praktisch konstant, während sie in der Mathematik einbricht – und zwar in allen Schulstufen. Die Forscher empfehlen deshalb attraktivere Methoden im Mathematikunterricht.
Enttäuschend ist auch der Befund zu den Kindern aus sozial benachteiligten Familien. Gemäss der Studie gelingt es den Kindern trotz individueller Förderung nicht, ihren Rückstand, der schon beim Schuleintritt festgestellt wurde, zu verringern – im Gegenteil. Die Kinder aus schlecht gebildeten Familien lernen zwar auch dazu, aber der Abstand zu Kindern aus privilegierten Familien wächst bis zum Ende der Schulzeit stark an. Urs Moser meint dazu: «Nichts kann eben die Unterstützung eines gebildeten Elternhauses ersetzen.»
Aufgeräumt wird zudem mit dem Vorurteil, die Muttersprache entscheide über den Schulerfolg. Bei gleicher sozialer Herkunft erreichen fremdsprachige Kinder dieselben Fortschritte wie Kinder mit deutscher Muttersprache.
Kritik übt Bildungsforscher Moser am Umgang mit schwachen Schülern. Von den rund 1600 Testschülerinnen und ‑schülern mussten 18 Prozent ein Jahr repetieren – am häufigsten in der Sekundarschule, wo die schulische Motivation am tiefsten ist. In Ausnahmefällen kam es in der gleichen Schullaufbahn sogar zu zwei Repetitionen. Moser meint dazu: «Das ist keine wünschenswerte Entwicklung.» Es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Repetitionen kaum positive Effekte hätten. Eine Klasse übersprungen hat im Übrigen gut ein Prozent der Kinder.
Lehrerverband ernüchtert
Die Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (ZLV), Lilo Lätzsch, ist ernüchtert. Es sei dringend nötig, die Situation der schwachen Schüler zu verbessern – speziell in der Mathematik. Das neue Lehrmittel sei zwar attraktiv, aber nur für die Starken. Lätzsch fordert neues Übungsmaterial.
Eine grosse Enttäuschung ist für sie, dass es der Schule nicht gelingt, soziale Nachteile zu verringern. Eine Ursache sieht sie beim Kanton, der sich aus der Frühförderung verabschiedet habe. Der Kantonsrat hat dies vor einiger Zeit zur Gemeindeaufgabe erklärt, was laut Lätzsch unter dem heutigen Spardruck vielerorts einem Verzicht gleichkommt. Geradezu «geschockt» ist sie über die grosse Zahl von Repetenten. Sie habe nur wenige Repetitionen erlebt, die etwas gebracht hätten: «Ein Schwan wird eben nie so fliegen können wie ein Adler.»
Die Langzeitstudie ist im Übrigen nicht zu Ende. Nun wird Urs Moser untersuchen, wie die Berufs- und Schullaufbahnen der 1600 Kinder nach der Volksschule weitergehen.


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