7. März 2015

Schön falsch ist auch schön

Im ersten Teil seiner Trilogie zu Schule und Reformen befasst sich Fritz Tschudi mit der Rolle der Lehrerverbände. Diese missbrauchten ihre wichtige Rolle als Informations- und Debattierplattform, indem sie immer stärker zur Disziplinierung der eigenen Basis beitrügen. 




Lehrerverbände - Back to the Roots! Fritz Tschudi



Schön falsch ist auch schön



Dieser Ausspruch stammt vom Schweizer „Bildungsunternehmer“ Peter Fratton. Der Mann steht für Utopien wie seine Gesinnungsgenossen Hüther und Precht. Der pädagogische Konstruktivismus sei unverzichtbar für eine gelingende moderne Schule wird ohne jeden Tatbeweis behauptet. Dies ist auch das pädagogische Credo für den Lehrplan 21 und die künftigen Lehrmittel. Der Methodenzwang ist damit gegossen, die Methodenfreiheit in den engen Grenzen dieser Ideologie eingepfercht. Als Berater in Sachen Gemeinschaftsschulen in einem deutschen Bundesland angeheuert, liess sich Fratton Mitte 2013, bei einer Landtagsanhörung zur Äusserung hinreissen, dass er – sollten seine reformpädagogischen Empfehlungen in die Tat umgesetzt werden – „keine Ahnung“ habe, „was dabei herauskommt. Aber schön falsch ist auch schön“. Ein zynischer Witzbold dieser Fratton – Potz Tausend!  Ach ja, nach einem entsprechenden Artikel in der FAZ wurde der Heilsapostel umgehend gefeuert.

Wie konnte es so weit kommen? Welche Kräfte haben dazu geführt? Wo blieb der Diskurs, wo gut verbreitete Bedenken aus der Erziehungswissenschaft und der Bildungspolitik? Offensichtlich wurde dem pädagogischen Extremismus auch hierzulande wenig Aufmerksamkeit gewidmet, bis es zu spät war. Ob Fratton und Co. inzwischen an Bedeutung eingebüsst haben wage ich zu bezweifeln angesichts der Deutungsmacht, welche die „pädagogischen Konstruktivisten“ durch den  neuen Lehrplan 21 erlangt haben.

Das abstruse kinderfeindliche Konstrukt ist heute, noch vor der Einführung des LP21, quasireligiöses Dogma in der Lehrerausbildung und unaufhaltsam unterwegs in die Unterrichtspraxen – flächendeckend.


Als dieser Lehrer seiner Klasse kürzlich zu Wochenbeginn in Mathematik bis zu 20 Seiten im Übungsheft zu lösen aufgab, war sein Kommentar dazu: «Jeder macht, soweit er kommt.» Tatsächlich überliess er die Schülerinnen und Schüler – Drittklässler! – ihrem Schicksal, selber während der Woche mit der «individualisierten» Aufgabenstellung über die Runden zu kommen – schliesslich sei es ja an ihnen, ihren Lernprozess zu regulieren, d.h. dass sie «ihre eigenen Lernstrategien entwickeln und anwenden und ihre Lernprozesse eigenständig überwachen und regulieren» sowie darüber reflektieren und sich letztlich selbst beurteilen sollen. Gerne würde man sich den Studenten zeigen lassen, der sein Studieren auf diese Weise «reguliert»… Obwohl …(die Schülerin) ein aufgewecktes und vifes Mädchen ist, geht sie äusserst ungern zur Schule…. Wen wundert‘s! Sie steht stellvertretend für viele Kinder, die heutzutage schon in den ersten Schuljahren den «Schulverleider» haben – ein Phänomen, das früher äusserst selten zu beobachten war“.

… und die Lehrerverbände? Akzeptieren sie die Entlassung der Lehrer aus ihrer Verantwortung? Freuen sie sich über die Deprofessionalisierung des Lehrerberufs, über das Verschwinden der Lehrer und der Fachlichkeit?

Durch die Ausrichtung am pädagogischen Konstruktivismus wird die berufliche Arbeit der Lehrer klar abgewertet. Es fehlen vorläufig noch die unvermeidlichen Vorstösse in den Parlamenten auf Senkung der Löhne für die „Kumpels“ und „Lernbegleiter“.

Defizite im Selbstverständnis mancher Verbände, wie mangelhafte Eigenständigkeit und  ideologische Unabhängigkeit, die fast vollständige Auslagerung der pädagogischen Deutungshoheit an externe Institutionen, sind offenkundig. Sie hinterlassen eine dauerverunsicherte Basis und belasten das Vertrauen in die Vereinsführung. Während in „alternativen“ Lehrerverbänden laut darüber nachgedacht wird, im Bedarfsfall fundamentale Kritik (in Klartext) zu üben oder gar ein Reformprojekt bachab zu schicken, folgen die „Offiziellen“ überwiegend dem obersten Gebot, der Anpassung. Sie folgen darum dem aktuellen pädagogischen Mainstream g r u n d s ä t z l i c h (= klassische Leerformel). Damit werden die Erwartungen der Obrigkeit und der PH in lobenswerter Weise erfüllt. Es ist auffallend, wie die „Offiziellen“ sich bemühen, wenigstens ein paar meist marginale Probleme zu extrahieren, um die Promotoren nicht einfach an den Mitglieder vorbeiwinken zu müssen.

Die zentrale Frage ist, ob sich der Verband um einen f r e i e n Meinungsbildungsprozess in der Basis b e m ü h t hat. Voraussetzung dafür ist die Bereitstellung von vielfältigen und ausgewogenen Informationen, geschrieben von unterschiedlich positionierten Fachautoren. Ebenfalls unverzichtbar ist die Anregung von Debatten in den Publikationsmedien des Vereins.

Die routinierte Erfüllung von Selbstverständlichkeiten wie gelegentliche Meinungsumfragen in der Basis und die formaldemokratisch notwendigen Abstimmungen anlässlich der Hauptversammlung sagen aber gar nichts darüber aus, wie aktiv die Vereinsführung zur Förderung der freien Meinungsbildung beigetragen hat. Die durchaus beobachtbare Beschränkung auf formaldemokratische Abläufe spricht für einen kontraproduktiven Minimalismus, den man von Vertretern einer bedeutenden Profession niemals erwarten würde. Die Frage nach den Gründen für die ausgeprägte Debattierscheu im Umgang mit Innovationen ist offen und schonungslos zu stellen und zu diskutieren. Ist es Naivität, Unwille, Ängstlichkeit, Unfähigkeit, Bequemlichkeit oder Abgehobenheit der Führungsriege?

Der Kernauftrag jedes Lehrerverbandes ist die Aufnahme und Unterstützung berechtigter Anliegen und Erwartung von Schule und Lehrerschaft.

Ich erachte es als zwingende Pflicht jedes Lehrerverbandes, nach Kräften zur f r e i e n Meinungsbildung seiner Mitglieder beizutragen. Der Grundanspruch ist sachlich daraus abzuleiten, dass für jede Lehrperson die Bildung eigener Überzeugungen für die erfolgreiche und beglückende Berufsausübung existenziell ist. Dieser Anspruch ist im ureigenen Interesse aller Lehrpersonen und nicht minder im Interesse der Schulen.

Meine kritischen Feststellungen und Fragen gründen hauptsächlich auf Beobachtungen und Erfahrungen in meinem „eigenen“ Verband. Der regelmässige Blick über den Tellerrand bestärkt mich in der Vermutung, dass ein Teil der Unzulänglichkeiten in einem umfassenden Gesinnungswandel in der Selbstwahrnehmung und damit im Rollenverständnis der Vereine zu tun hat.
Wie erklären Sie sich, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, dass inmitten einer bisher nie dagewesenen Flut von Reformen mit teils brisanten Ansätzen, Vereinsführungen nichts Zweckdienlicheres zu tun wissen, als ihre Basis irgendwie ruhig zu stellen?

Lehrerverbände haben eine Informationspflicht. Informationen über kontroverse Themen haben ausgewogen und möglichst transparent zu erfolgen. Dieser Anspruch gilt selbstverständlich auch für Texte, die den Vorstellungen der Verbandsführung zuwider laufen.

In hohem Masse unredlich ist es, wenn ein Verein seine Publikationsplattform den Promotoren von Reformprojekten freizügig zur Verfügung hält, während kritische Beiträge von Fachautoren (zum selben Thema) ausgeschlossen bleiben.

Sicher wäre es naiv, an die Existenz neutraler Informationen bei Reformvorhaben zu glauben. Jeder Text spiegelt die Haltung der Autoren wider, kann also niemals frei von Beeinflussungsabsichten sein. Als verwerflich empfinde ich den Versuch, Fachtexten besondere Wissenschaftlichkeit zuzuschreiben, nur um gegnerische Kritik als unglaubwürdig erscheinen zu lassen und damit der Debatte zu entziehen. So kann auf einfachste Weise die Mehrheit der Mitglieder stumm geschaltet werden.

In der Informationspraxis geht es um die Beanspruchung der Deutungshoheit, um Meinungsbildung und -verbreitung, letztlich um Dominanz und Macht.

Es entscheiden nicht die besseren Argumente aus dem Zweikampf widersprüchlicher Theorien, auch nicht die Empirie, weil die Praxis fehlt oder diese wegen negativer Erfahrungen (Kompetenzorientierung/ konstruktivistischer Unterricht) als „nicht hilfreich“ gezielt ausgeblendet wird. Entscheide ergeben sich aus den Meinungen relevanter Akteure. Dabei ist es für das Zustandekommen klarer Stellungnahmen gleichgültig, ob diese durch  Propaganda und Indoktrination geprägt oder das Ergebnis freier Meinungsbildung sind. In einer demokratischen Gesellschaft spricht alles dafür, die freie Meinungsbildung vorzuziehen.

Aus dieser Sicht ist es unverzichtbar, unterschiedliche Befunde und unterschiedliche sachliche Standpunkte stets gleichwertig zu Worte kommen zu lassen.

Zu achten ist auf die allgegenwärtige Gefahr des Aufkommens indoktrinärer Tendenzen, welche durch systematisch einseitige Informationsstrategien, bei gleichzeitiger Vergabe von Maulkörben an interne Kritiker und durch Unterdrückung freier Debatten geschürt werden können. Ich bin mir sicher, dass keine Vereinsleitung den Vorwurf riskieren will, durch indoktrinäre Absichten, der Bevormundung und damit der Entmündigung der Lehrerschaft Vorschub leisten zu wollen.

Wenn die Verbandsführung sich aber als Steuerknecht für Meinungsmache missbrauchen liesse, sollten alle Alarmglocken läuten.

Wer fleissig in den Vereinspublikationen zugange ist, kann sich des Eindrucks allerdings nicht erwehren, dass mit Begehrlichkeiten der Bildungsadministration oder externer Akteure bevorzugt unkritisch umgegangen wird, wohl getrieben von der Befürchtung, andernfalls als reaktionär, konservativ und rückwärtsgewandt gebrandmarkt zu werden. Es ist genau jenes Gebaren der Unterwürfigkeit, der Mutlosigkeit zur beharrlichen Bewirtschaftung eigener Postulate und Forderungen, welches den Eindruck erweckt, der Lehrerverband betätige sich eher als verlängerter Arm der Bildungsbürokratie, als willkommene Gehilfe zur Disziplinierung der eigenen Basis. Wenn dem so wäre, dürfte es keinen verwundern, wenn sich Lehrerverbände der Basis zusehends weiter entfremdeten.


Im 2. Teil berichte ich von aktuellen Erfahrungen nach bald 48 Jahren Mitgliedschaft in „meinem“ Verein.


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