15. Januar 2016

Geliebt-gehasst Schnürlischrift

Wir müssen Abschied nehmen. Von etwas, das bislang Allgemeingut war oder zumindest die vergangenen vier, fünf Generationen verbunden hat. Durch Mühen. Durch Frust. Durch Freude, wenn es endlich klappte, und man endlich in der Schule bei den Grossen war. Durch Witze, die man über jene machen konnte, die es einfach nicht auf die Reihe brachten. Die Rede ist von der Schnürchenschrift oder Schnürlischrift, wie sie in der Deutschschweiz genannt wird. Auch bekannt unter verbunden oder zusammengehängt schreiben. Diese Form des Schreibens ist ab Sommer Vergangenheit und wird durch eine Basisschrift ersetzt. Die Schnürlischrift muss in die Abteilung Kunst wechseln, wo sie dann vermutlich bald so verstaubt und einsam vor sich hin modern wird wie das Schreiben mit dem Gänsekiel, das Versiegeln von Briefen mit einem Stempel oder das Fahren auf dem Hochrad.













In Basel wird ab Schuljahr 2016/17 die Basisschrift eingeführt, Bild: Florian Bärtschiger
Goodbye, geliebt-gehasste Schnürlischrift, Basler Zeitung, 15.1. von Mischa Hauswirth


Doch zunächst ein Geständnis: Die mit Abstand schlechteste Note in meiner Schulkarriere musste ich im Fach «Schönschreiben» hinnehmen. 1–2 stand im Zeugnis und brannte sich in mein Gedächtnis ein, ebenso wie das Gewitter zu Hause, als mich meine Mutter ausschalt und eindringlich forderte, ich solle aufhören zu «chafle» und mir endlich mehr Mühe geben.
Damals, im Schulmief des noch miefigeren Städtchens Olten, in einer Schule am Ende der Welt, es war so 1979 oder 1980, war das Beherrschen der Schnürlischrift mindestens so angesehen wie das Abliefern eines fehler­losen Diktates.

Ivan, Godfather of the Sauklaue
Wenn ich gewusst hätte, was die Hirnforschung heute weiss, nämlich dass Buben viel mehr Mühe haben mit der Feinmotorik als Mädchen und deshalb schon allein physisch benachteiligt sind, hätte ich das zu meiner Verteidigung vorgehalten. «Ich bin ein Knabe, die können nicht so schön schreiben wie Mädchen, so wie Mädchen nicht so schnell die Kletterstange hochkommen!»

Heute würde mich bestimmt eine Armada von Sonderschullehrerinnen und Superpädagoginnen verteidigen und therapieren wollen. Aber damals war so etwas nicht üblich. Die Forschung hatte diese geschlechterspezifische Ungerechtigkeit noch nicht aufgedeckt.

Zum Glück gab es da Ivan. Er war mein Banknachbar und meine einzige Rettung. Ich tröstete mich an ihm, weil er noch unfähiger schien als ich. Er hatte etwa die gleich schlechte Note in dieser bubenfeindlichen Schuldisziplin und war deshalb so etwas wie mein Weggefährte in der aussichtslosen Schlacht gegen das Gekringel und Geschlängel auf einem Quadratzentimeter. Gemeinsam stürzten wir uns ins Schönschreibgetümmel, im sicheren Wissen um den nahenden Untergang.

Ivan war für mich der Godfather of the Sauklaue. Meine Schrift konnte sich nie entscheiden, ob sie aufrecht, nach hinten oder nach vorn gebeugt sein wollte, mal waren Buchstaben zu gross, mal musste ich den Anfang reinflicken, doch es war so etwas wie eine Schrift, auch wenn sie in den Augen des Lehrers mehr einer kreativen Verwüstung des Blattes gleichkam. Ivans Blätter hingegen sahen aus, als hätte er versucht, eine Zeichnung vom Fell der Dalmatiner zu machen und die Punkte dann mit Gekringel zu verbinden. Alles voller Tintenflecken. Der Lehrer schüttelte jeweils nur gequält den Kopf und sagte schon gar nichts mehr. Unsere Bank war für ihn in Sachen Schnürlischrift die Insel der Verdammten.
Doch es muss festgehalten werden: Ivan wäre gar nicht so schlecht gewesen mit dem geschwungenen grossen S oder dem noch geschwungeneren grossen X, den kleinen A und O, den dickbauchigen B oder D – sein echtes Problem war der Fülli (Schweizerdeutsch für Füllfederhalter). Dieser leckte wie die kaputte Ölwanne bei einem alten VW-Käfer. Woran Ivan nicht ganz unschuldig war. Denn er hatte auf dem Schulweg versucht, mit dem Fülli Schrauben aus einem Briefkasten herauszudrehen, und dabei die grazile Feder so arg verbogen, dass er sie mit dem Schuh wieder zurückbiegen musste.

Das Problem bei dieser leicht brachialen Intervention: Der Fülli glitt nicht mehr und hatte rein technisch seine Fähigkeit eingebüsst, jene perfekten Schnörkeltänze zu vollführen, wie die Füllis der Strebermädchen Leila und Monika dies taten. Stattdessen kratzte Ivans Fülli Furchen auf das Blatt, als wäre er ein Sackmesser und das Blatt die Rinde einer Eiche. Und eben die Flecken. Nach jedem dritten Buchstaben leckte der Fülli und sonderte eine Lache ab, gerade so gross, dass sie das halbe Wort vorher und oberhalb verdeckte.

Ivans Blatt sah bald aus, als hätte es Tinte geregnet. Wenn er dann noch – es war wirklich keine Absicht gewesen! – mit der Hand in einen solchen Tintensee rutschte, war der Einser auf sicher. Zu seiner Verteidigung kann ich bezeugen: Ivan hat sich wirklich alle Mühe gegeben und wollte die Schnürlischrift beherrschen.

Wären wir heute Kinder, würden uns vermutlich die Vorschläge aus Finnland, die Handschrift aus dem Unterricht zu verbannen, sicher gut gefallen. Kinder schreiben, wenn sie schon schreiben müssen, lieber mit einer Tastatur, sagen einige finnische Pädagogen. Künftig werde das perfekte Beherrschen des Zehnfingersystems wichtiger sein – ob jemand Schnürlischrift kann, wird Nebensache. In einer digitalen Welt mit Computer, WhatsApp, Chats, SMS und Autokorrekturprogrammen braucht es sowieso kaum noch Papier und Tinte, um etwas zu schreiben.

Handschrift hilft beim Lernen
Während die einen eine Anpassung an die Moderne und ihre technische Entwicklung begrüssen, ist die Abschaffung der Schnürlischrift für die anderen ein weiterer Beleg dafür, wie sich der Mensch den Maschinen unterordnet und jede Individualität freiwillig aufgibt. Computer entern das Persönliche. Mit dem Ende der Schnürlischrift sehen einige bereits den Zerfall von Bildung voraus. Die Zahl jener, die schlecht oder gar nicht mehr schreiben können, werde steigen, lautet die Sorge eines Zürchers Hirnforschers.

Dass die Handschrift etwas sehr Persönliches ist und ein von Hand geschriebener Brief in der Skala der Aufmerksamkeit und der Sympathien eine andere Stufe belegt als ein Computerbrief aus dem Drucker, auf diese Einschätzung können sich sicher viele einigen. Dass von Hand Geschriebenes aber auch besser ist fürs Lernen, wird wenig erwähnt. Die finnische Hirnforscherin Minna Huotilainen fand heraus, dass Studenten, die sich handschriftliche Notizen machen, bessere Lernresultate aufweisen als die anderen. «Unser Hirn speichert angesichts der Flut von Informationen nur jene Informationen ab, mit denen man sich länger oder intensiv beschäftigt hat.»

Auch wenn das Schreiben mit der Tastatur schnell geht – beim Mitschreiben ist das Gehirn gezwungen, mitzudenken und zusammenzufassen, was sich letztlich positiv auf das Verarbeiten und Memorieren von Information auswirkt.

Hochschullehrer beobachten, wie nicht nur die Handschrift verkümmert, sondern mit ihr auch die sprachliche Virtuosität, die Grammatikkenntnis, das Gefühl für Sprache. Die Schnürlischrift wird wohl künftig nur noch in Kunstkursen angeboten, wie Kalligrafie oder meditatives Malen. Etwas Gutes allerdings hat diese Entwicklung (wenn auch nur aus der Sicht eines ehemals Leidgeplagten): Sie beendet das Diskriminieren von Kindern, nur weil sie nicht so schön schreiben können.


2 Kommentare:

  1. Die Abschaffung der Schnüerlischrift ist nur ein weiteres Kapitel des gefährlichen Trends den Schülern vermeintlich das Lernen zu erleichtern. Man will dem Kind das Erlernen der Schnüerlischrift nicht mehr zumuten. Damit geht jedoch jedes Mal unausgesprochen die verheerende Botschaften mit, "Du kannst es nicht" oder "Ich traue es Dir nicht zu". Anstatt das die Schüler angespornt werden, "das kannst Du auch", auch wenn es Dir am Anfang Mühe bereitet, Generationen von Schülern vor Dir haben es auch gekonnt, warum solltest Du es nicht können? Das "Steine aus dem Wege räumen" bei den Kindern wirkt sich verheerend aus, es entmutig und schwächt sie und hilft das allgemeine Lernniveau zu senken, was man dann mit einfacheren Prüfungen zu kaschieren versucht. Wir sind auf dem besten Wege auf das Niveau des angelsächsischen Schulsystems mit der 20:80 Gesellschaft herunter zu fahren.

    AntwortenLöschen
  2. Genau dasselbe spricht Markus Somm in seinem Kommentar "Schule des Larifari" vom 16.1. an.

    AntwortenLöschen