21. Februar 2016

Blanker Unsinn

Lehrer sollen Schüler charakterlich bewerten – das Vorhaben ist hoch umstritten.

















Im Lehrplan 21 sollen auch die "überfachlichen Kompetenzen" gemessen und bewertet werden, Bild: R. Oeschger
Vermessene Vermessung, Sonntagszeitung, 21.2. von Nadja Pastega


Auf der Bühne der Aula des Gymnasiums Lerbermatt in Köniz stand der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver, flankiert von zwei Protokollschreibern an Flipcharts. Was der grüne Regierungsrat in seinem Hearing am letzten Mittwoch vor rund 200 geladenen Lehrern präsentierte, hatte es in sich: Mit der Umsetzung des Lehrplans 21, des gemeinsamen Regelwerks für die 21 Deutschschweizer Kantone, müssen die Lehrer künftig auch Charaktereigenschaften und Haltungen ihrer Schü- ler bewerten. Diese sogenannten überfachlichen Kompetenzen sollen gemäss Entwurf der Berner Erziehungsdirektion in die Schlussnote der einzelnen Fächer einfliessen. Auf einem separaten Bewertungsformular müssen die Lehrer zudem die «personalen und sozialen Kompetenzen» der Schüler ausweisen.

Den Entwurf der Berner Erziehungsdirektion zum neuen Beurteilungsraster auf der Sekundarstufe machte gestern die «Basler Zeitung» publik. Das sechsseitige amtliche Dokument, das der SonntagsZeitung vorliegt, basiert auf dem umfangreichen Katalog, den der Lehrplan 21 vorgibt. Zwar wird das Verhalten der Schüler bereits heute in den meisten Kantonen beurteilt – doch das Berner Modell geht weit darüber hinaus.

Ideologisch gefärbte Einschätzungen
So sollen die Lehrer ihre Zöglinge einmal pro Jahr auf einer Skala von 1 bis 10 charakterlich vermessen. Qualifikationen soll es geben für Selbstreflexion, Selbstständigkeit und Eigenständigkeit, hinzu kommt eine Bewertung von Dialog-, Kooperations- und Konfliktfähigkeit. Zensuren sollen auch verteilt werden für ideologisch gefärbte Einschätzungen wie «Umgang mit Vielfalt». Was darunter zu verstehen ist, steht in den amtlichen Erläuterungen: Die Schüler sollen die «Vielfalt» von Religionen, Kulturen und Lebensformen «als Bereicherung erfahren» und «die Gleichberechtigung mittragen». Vorgesehen sind auch Bewertungen für Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Ordnungssinn, Höflichkeit und Umgangsformen.

«Buben werden schlechter wegkommen als Mädchen»
Das Vorhaben ist hoch umstritten. Für Alain Pichard, Lehrer in Biel und Initiant des lehrplankritischen Memorandums «550 gegen 550», ist die «psychometrische Vermessung» der Kinder «inakzeptabel». Man könne Verhalten und Charakter gar nicht objektiv beurteilen. Zudem sei unklar, wie man das genau bewerten müsse.

Beispiel Selbstreflexion: «Wenn ein Schüler eine 2 in Mathematik macht und sagt, er komme nicht draus, er sei zu dumm, ist das dann eine gute Selbstreflexion?» Gewisse Formulierungen seien «unglaublich», so Pichard. «Wie sollen wir zum Beispiel das Verhalten ‹Die Schüler können Gefühle wahrnehmen und situationsangemessen ausdrücken› bewerten? Heisst das, dass sie nicht mehr Scheisse sagen dürfen?»

Kritik kommt auch von Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl. Dass die Pädagogen die Sozialkompetenz ihrer Schüler bewerten sollen, sei «anmassend». Man schanze den Lehrern eine Aufgabe zu, die sie gar nicht erfüllen könnten, so Guggenbühl. In Fachkreisen sei längst klar, dass man vom Verhalten allein nicht auf die Sozialkompetenz und die Persönlichkeit schliessen könne.

«Das Verhalten ist immer abhängig von der Situation. Wenn es in einer Klasse Spannungen gibt oder ein Lehrer unsympathisch ist, werden die Schüler eher blöd tun und frech auftreten», sagt Guggenbühl, «das heisst aber nicht, dass sie sozial inkompetent sind, sondern dass sie auf die Situation reagieren.»


«Problematisch» sei das geplante Bewertungsraster auch deshalb, weil es «eine Form von oberflächlicher Anpassungsleistung» fördere. Jene Schüler, die dem Lehrer nach dem Mund redeten und brav aufträten, bekämen eine bessere Beurteilung als jene, die widersprächen, provozierten und aneckten. «Buben werden damit schlechter wegkommen als ihre Mitschülerinnen – Mädchen sind geschickter darin, sich so zu verhalten, wie es der Lehrer wünscht.» Für Guggenbühl ist klar: «Was man da vorhat, muss man wieder streichen. Das ist einfach Unsinn.»

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