23. Februar 2016

Einbezug der Lehrer à la Pulver

Vor den Winterferien fragte mein Schulleiter unser Kollegium an einer Konferenz, wer interessiert wäre, an einem Hearing zur neuen Beurteilung teilzunehmen. Man könne sich bei ihm melden, was ich denn auch tat. Und so  kam ich zu einer  Einladung von  Erwin Sommer, dem Vorsteher des Amtes für Kindergarten, Volksschule und Beratung,  für ein Hearing in der Aula des Gymers Lerbermatt.  Zur Vorbereitung  erhielt  ich die Entwürfe der neuen Beurteilung zugesandt.
Der "demokratische Einbezug" der Lehrer mittels Pulver-Hearings, von Lars Burgunder, 23.2.


Ich muss bekennen, dass ich als eher junger Lehrer die Zeiten, in denen man die Schüler mit Fleiss- und Betragensnoten beurteilt hatte, glücklicherweise nicht mitbekommen habe. Als ich aber beim Studieren der Dokumente erfasste, dass es wieder Beurteilungen von Ordnungssinn, Höflichkeit und Pünktlichkeit geben sollte, musste ich leer schlucken. Die Rhetorik war ja bis anhin, dass es sich bei diesem Lehrplan und all den mit ihm verbundenen Neuerungen um etwas Fortschrittliches handeln sollte. So etwas empfand ich aber als einen Rückschritt tief in die 50er-Jahre.

Ich konnte nicht mitapplaudieren

Was jetzt kommt, ist meine persönliche Wahrnehmung der Dinge und des Hearingabends, und trifft natürlich nicht auf jeden der geladenen Gäste zu. Denn am Schluss bekam Herr Pulver einen lauten Applaus, dem ich mich leider nicht anschliessen konnte, und auch das üppige Apéro danach habe ich ignoriert. Nein Danke.

Vorne standen die Herren Pulver und Sommer, plus zwei Protokollschreiber an Papierboards. Sie hielten  die "Rückmeldungen" aus dem Publikum fest. Zwei junge Damen gingen mit Mikrofonen im Saal herum, um Meinungen oder Äusserungen einzuholen.

Pulver hatte ein Mikrofon am Jackett, war Hauptreferent, Showmaster, Leiter dieses Hearings. Jedes Formular der Beurteilung wurde einzeln durchgegangen und man konnte sich melden, und sagen, was man gut findet oder eher nicht, was man geändert haben möchte oder nicht, oder ganz einfach seine Meinung sagen.
Pulver hat "Arena-like" die Sachen aufgenommen und schon war der Nächste dran. Ihn zu konfrontieren lag  nicht drin. Eine wirklich kritische  Auseinandersetzung fand selbstredend  nicht statt.  Ich war konsterniert: War das jetzt die demokratische Einbindung der Basis? Aber das war bei weitem noch  nicht alles. Zu  jedem Formular gab's danach eine Art "Abstimmung", ob die geladenen Gäste nun mehr FÜR oder eher GEGEN den Vorschlag des entsprechenden Formulars waren. Aber dies sei nur "um zu sehen,  wie so die allgemeine Stimmung ist".  4/5 der Besucher hatten nie etwas gesagt oder sich kritisch geäussert. . Aber "um zu sehen, wie die Stimmung ist", haben sie gern die Hand gehoben, oder sich im Nachhinein privat unterhalten. 

Das Hearing dauerte von 17.00 bis 19.00. Der Event wirkte unglaublich gestresst, ich selbst hatte das Gefühl, dass manche Wortmeldungen nicht ernstgenommen wurden.  Zwei Stunden um ALLE Formulare durchzugehen. Die Kompetenzeinschätzung 7.-9.Klasse kam um 18.58 dran!! Um 19.12 war Schluss. Es gab keine Möglichkeit das Ganze richtig kritisch zu hinterfragen und auseinanderzunehmen. Meine im Vorfeld ausgedruckten Bögen waren voll mit Bemerkungen, am Schluss konnte ich genau ein einziges Mal etwas fragen und sagen.

Natürlich war ich kritisch eingestellt an dieses Hearing gegangen, und die Kritik zum LP21 wird mir niemand nehmen. Zu dieser Haltung bekenne ich mich. Aber was ich dann dort erlebte, verschlug mir  den Atem.
Jemand fragte: "Was passiert mit Eltern, die ein Standortgesprächsprotokoll nicht unterschreiben wollen?"
Daraufhin brummelte jemand:  "Die werden ausgeschafft"  und Pulver hörte dies und sagte laut: "Ha, ha, ja die werden ausgeschafft" . Gelächter im Saal, Herr Pulver kann ja so lustig sein.  Absolut unter der Gürtellinie.
Pulver selbst wirkte durch den Abend hindurch gestresst, er verhaspelte sich, vergass Sachen, wusste zum Teil banalste Dinge nicht, z.B.  ob die SuS an Standortgesprächen dabei sind oder nicht..
Dafür wieder ein lockerer Spruch: "Bitte nicht zu viel Einwände, ich will keine zweite Schübe". Zustimmendes Grinsen und Kopfnicken allerseits, man versteht sich. Dann aber wieder ernsthafter: "Ich werde vielleicht nicht gleich entscheiden wie ihr, aber eure Rückmeldungen sind mir wichtig". Und um 18.30, beim Erklären einer Folie, bei der er sich zum x-ten Mal verhaspelt hatte,  wieder ironisch: "Ich bin am Limit meiner Kompetenz". Da stellte ich seine Professionalität ernsthaft in Frage, Satire hin oder her.

Du entnimmst der zweitletzten Bemerkung, dass Pulver, und das erwähnte  er mehrere Male, als Bildungsdirektor des Kantons die letzten Entscheidungen treffen werde, was den LP21 und die neue bernische Schülerbeurteilung angeht. Aber, aufgepasst! Er nähme  unsere Rückmeldungen gerne entgegen und  bespräche sie  dann mit seinem Team....  oder wie auch immer.
Die Beurteilung sei eine "Vereinfachung" der Schübe und somit lehrerfreundlich. Nur noch Ende Jahr bekämen die Schüler Noten, genannt Methodische Kompetenz, zusammengesetzt aus Produkt, Lernkontrolle und Lernprozess.
Einmal Mitte Jahr sollen mittels Standortgespräch die sozialen und personalen Kompetenzen auf entsprechenden Formularen ausgewiesen werden. Acht soziale Kompetenzen (Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Umgang mit Vielfalt… ), 12 personale überfachliche Kompetenzen, alles auf einer Skala von 1 bis 10, mit Lernzuwachs. Und ich frage mich, welche Anmassung da von mir erwartet wird. Bin ich Lehrer, bin ich Psychologe oder ein psychiatrischer Rechtsgutachter?
Ich sollte mit folgendem Satz beruhigt werden: "Der Schüler oder die Schülerin DARF diese Beurteilungen einem Beurteilungsbericht (bei einer Bewerbung) beilegen, MUSS aber nicht." Ja warum macht man denn den ganzen Zirkus?
Ich habe AUSDRÜCKLICH nachgefragt:  Die Kompetenzen sind NICHT Teil der Beurteilung Ende Jahr, sie können aber in die Gesamtnote pro Fach mit einfliessen -  somit wird eine Note meiner Meinung nach noch undurchsichtiger. Und was soll denn das? Die braven, höflichen, pünktlichen SchülerInnen, werden die Kompetenzbeurteilungen beilegen. Und wer nicht beilegt? Ja, der hat wohl was zu verbergen.
Wieder eine Beruhigungspille von Pulver: Die Kompetenzraster sollen aber noch überarbeitet werden. Vor allem mit gewissen Formulierungen und Sätzen in den Rastern sei man noch nicht ganz zufrieden und diese würden von der Arbeitsgruppe noch verbessert.
Wieder muss ich  leer schlucken: "Schüler können eigene Gefühle wahrnehmen oder situationsangemessen ausdrücken", heisst es. Will man die Jugendsprache verbieten?
Oder „SchülerInnen können Menschen in ihrer Gemeinsamkeiten und Differenzen wahrnehmen und verstehen, können respektvoll mit Menschen umgehen, die unterschiedliche Lernvoraussetzungen mitbringen oder sich in Geschlecht, Hautfarbe, sozialer Herkunft,  Religion oder Lebensform unterscheiden!"
Wie soll ich das beurteilen auf einer Skala von 1 – 10? Ein Schüler regt sich über einen Mitschüler auf, der per Zufall eine andere Nationalität hat! Gibt das jetzt einen Punkteabzug? Eine Schülerin backt in einem Schulprojekt  Kuchen für ein Flüchtlingsprojekt, gibt das Pluspunkte? Das ist grotesk, das ist Vermessungswahn gepaart mit Gesinnungsideologie, das ist bürgerlich elitäres Tugendgeschwafel in Kompetenzrastern pseudowissenschaftlich getarnt, Raster,  in welche man jetzt die Kinder reindrückt und anpasst.
Jugendliche anhand von charakterlichen Grundzügen zu beurteilen, gehört nicht in die Schule. Beanstandungen seitens der Lehrer an Jugendlichen dürfen an einem Elterngespräch besprochen werden, ohne Frage, aber sie gehören definitiv nicht in eine Beurteilung! Ausserdem werden die meisten der genannten Kompetenzen von anderen Faktoren beeinflusst: Das Klassenklima, das sich Wohlfühlen im Klassenzimmer, in der Schule, das Lernklima,  und das Allerwichtigste: Die Beziehung zwischen Schüler und Lehrperson! Denn oft sind gewisse Verhalten von Schülern nichts anderes als eine Antwort auf das Verhalten oder die Persönlichkeit der Lehrperson. Es geht also auch um Sympathie oder Antipathie. Ein einfaches Beispiel: Ein Schüler mag eine Lehrperson nicht besonders, also wird sie diese auch nicht entsprechend grüssen. Andere Lehrer werden im Schulhaus dauernd gegrüsst, vielleicht auf der Treppe noch was gefragt oder erzählt.  Wie soll also Höflichkeit auf einer Skala von 1 -10 beurteilt werden? Ist es dann eine 5 für „manchmal ist er höflich“? Und was ist denn der Unterschied zu einer 6?

Am Hearing selber gab's keine Chance dies vorzubringen! Wie auch,  in 14 Minuten? Im Gegenteil, Applaus! Mit demokratischer oder gar professioneller Entscheidungsfindung hat das gar nichts zu tun.  Ich fühle mich einsam und ich bin enttäuscht, dass es nicht mehr kritische Lehrer gibt. Lehrerinnen  mit Herz. Lehrer mit Realitätssinn. Lehrerinnen, die Konfrontation zulassen um kommunizieren zu können. Lehrer, die Beziehung vor Erziehung stellen. Lehrerinnen, nicht als Beurteilungsmaschinen sondern mit Ideen. Lehrer, die aus der Reihe tanzen und alles anders machen. Die Spinner eben. 


Ich habe mich deshalb entschieden auf Sommer einmal mehr zu künden, nach 6 Jahren in Niederwangen, nach 14 Jahren Oberstufenlehramt. Es sind persönliche Gründe sicher, die Beobachtungen in meinem Berufsfeld  aber auch. Ob ich die Schule ganz verlasse, weiss ich noch nicht, wohl werde ich hie und da mal wieder als Stellvertretung unterrichten und den Jugendlichen Gutes bringen.  Ganz sicher werde ich mich nie darauf einlassen, Kinder in Charakter, Meinung und Lebenshaltung  beurteilen, ganz sicher nicht! Denn unsere Arbeit, die machen wir primär nicht wegen der Kohle oder den Ferien. Nein! Wir machen ihn der Kinder und Jugendlichen wegen. Und wer die Frage nach „warum bist du Lehrer“ nicht mit letzterem Satz an erster Stelle beantworten kann, ist aus meiner Sicht am falschen Ort. Aber dies ist eine andere Geschichte. 

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