29. April 2016

Mehrdimensionale Bildung durch neue Lernkulturen

Derzeit stösst der bildungspolitisch interessierte Leser öfters auf Buchpublikationen mit Titeln, welche die Bildungskatastrophe an die Wand malen - so wie «Lehrerdämmerung» von Christoph Türcke oder auch «Theorie der Unbildung» von Konrad Paul Liessmann dies tun. Beide Autoren gehen darin von einem vermeintlich gesicherten Wissen über die Rolle der Lehrenden in den Prozessen der Bildung aus, und beide sehen die Heranwachsenden durch die «neue Lernkultur in den Schulen» bedroht.













"Beschwörungen" - Rolf Arnold kritisiert das Bildungsverständnis von Türcke und Liessmann, Bild: Zeitschrift für Evaluation www.zfev.de
Es dämmert - nach vorn, NZZ, 19.4. Gastkommentar von Rolf Arnold

Doch sind die überlieferten Formen von Erziehung und Bildung schon allein deshalb auch zukunftstauglich, weil wir sie historisch herausgebildet haben? Statt auf nüchterne und evidenzbasierte Prüfung dieser Frage stösst man in beiden Büchern auf Polemik. So, wenn zum Beispiel Christoph Türcke den Eindruck erweckt, als wären Begriffe wie «Kompetenz» oder «Inklusion» blosse «Glaubensartikel», die auch deshalb in die Welt gesetzt wurden, um an die Stelle der Entwicklung von Persönlichkeiten die Herstellung von «Kompetenzkrüppeln» setzen zu können - mit unabsehbaren Folgen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft.

Ähnlich klingen auch die Beschwörungen, welche Konrad Paul Liessmann nicht müde wird unter die Leute zu bringen. Auch er spricht von «Dämmerung» - allerdings beklagt er die «Fächerdämmerung». Für ihn scheint klar zu sein, dass inhaltliche Kenntnisse jeglicher Kompetenzreifung vorauszugehen haben. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit neueren Kompetenzforschungen, welche die kompetenzstiftende Bedeutung von Wissen untersuchen und zu der Einsicht gelangen, dass «Wissen keine Kompetenz [ist]», wie John Erpenbeck etwa in seinem Buch «Stoppt die Kompetenzkatastrophe» detailliert aufzeigt, findet nicht statt.

Die angriffige Botschaft ist in beiden Büchern dieselbe: Stoppt das Kompetenzgerede, und sorgt dafür, dass alles so bleiben kann, wie es war! Denn damals, so die Ansicht der Autoren, war alles gut. Verfolgt man den bildungswissenschaftlichen Diskurs jedoch aufmerksam, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass der Anspruch der Bildungsinstitutionen, junge Menschen auf das Leben vorbereiten zu können, stark ins Wanken geraten ist.

Wenn etwas an den Prognosen Ray Kurzweils dran ist, laut denen wir im 21. Jahrhundert eine Veränderung der menschlichen Lebensbedingungen, der menschlichen Möglichkeiten und der Anforderungen an den Menschen erleben werden, die in ihrer Intensität dem Wandel der zurückliegenden 20 000 Jahre Menschheitsgeschichte entspricht, dann müssen wir das unser Bildungswesen bis anhin tragende Konzept «Learning from the past» dringend modifizieren.

Dabei werden wir uns von der Fixierung auf Inhalte lösen müssen, um die Nachwachsenden auch als Persönlichkeiten so zu stärken, dass sie tatsächlich in der Lage sind, «neuartige Situationen selbstgesteuert und sachgemäss zu bewältigen» - wie es in der Definition des Kompetenzbegriffs des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) heisst. Klug vorausschauende Bildungstheoretiker haben früh erkannt, dass dies das Anliegen einer formalen Bildungstheorie sein muss, die sich gründlicher als bisher um die Klärung der Frage bemüht, wie entsprechende Fähigkeiten in den Subjekten tatsächlich angebahnt und gefördert werden können. Wer in solchen Zukunftsinitiativen bloss «Dämmerungen» zu erkennen vermag, ignoriert und banalisiert diese nicht nur, er lässt die Bildungspolitik auch mit einem «Weiter-so-wie-bisher» zurück, das keine wirkliche Perspektiven zu stiften vermag.

Die neuen Lernkulturen öffnen gegenüber den bisherigen Methoden auch Wege, um der skandalös geringen Nachhaltigkeit des bisherigen Lernens in Curriculum-Bahnen zu entkommen, in denen die Kenntnisse mehrerer Schuljahre oft fast vollständig verblassen. Gleichzeitig ziehen sie entschlossene Konsequenzen aus den Ergebnissen der Hirnforscher, die uns unisono zurufen: Vermitteln von Inhalten oder gar Kompetenzen geht nicht! Kompetenzorientierte Lernkulturen setzen deshalb auf die notwendige Gestaltung von Kontexten für die selbstorganisierte Aneignung von Inhalten, bei denen weniger die Steuerung oder die Belehrung durch eine Lehrperson als vielmehr die Begleitung und die Beratung von Suchprozessen im Zentrum stehen.

Den gescholtenen neuen Lernkulturen geht es dabei darum, das Konzept einer «mehrdimensionalen Bildung» zu stärken, wie dies die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft in ihrer jüngsten Denkschrift mit dem programmatischen Titel «Bildung. Mehr als Fachlichkeit» fordert. Durch mehrdimensionale Lernkulturen werden neben den Fachkompetenzen auch «Persönlichkeitsstruktur, Verhaltenssicherheit und Charakterbildung der Heranwachsenden» gestärkt, wie zahlreiche Erfahrungen in der schulischen, aber auch in der betrieblichen Bildungsarbeit eindrucksvoll zeigen. Hierfür bedarf es tatsächlich einer Professionalität bei den Verantwortlichen, die mit dem Begriff der «Lernbegleitung» treffender beschrieben ist. Wenn hier etwas zum Vorschein kommt, dann nicht die Abend-, sondern die Morgendämmerung.


Rolf Arnold ist Professor für Pädagogik an der Technischen Universität Kaiserslautern.

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