12. Juni 2016

Fremdsprachenunterricht: Erleben statt erlernen

«Toi, tu es le garde-barrière, et moi, je suis le mécanicien.» So versuchte ein Französisch-Lehrmittel vor Jahrzehnten, Schüler zum Sprechen zu animieren. Bahnwärter gab es schon damals längst nicht mehr. Und worüber sich die beiden zum Rollenspiel gezwungenen blutigen Anfänger hätten austauschen können, bleibt bis heute ein Rätsel. Familienintern dient der Satz seither als Marker für allerlei absurde Alltagssituationen. Gewiss, der Sprachunterricht hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren enorm weiterentwickelt. Ein schwieriges Geschäft ist er trotzdem geblieben. So hat sich im letzten Herbst eine Gruppe von Eltern aus dem bernischen Wilderswil medienwirksam darüber beklagt, dass ihr Nachwuchs in der siebten Klasse nach 351 Lektionen Französisch kaum einen geraden Satz über die Lippen bringe. Schuld daran seien die Verlegung des Französischunterrichts von der fünften in die dritte Klasse und das neue Lehrmittel, das nicht Grammatik und Rechtschreibung in den Vordergrund stelle, sondern spielerisch in die Sprache einführe.
Wie viel Sprache darf es sein, NZZ, 11.6. von Walter Bernet


Das Beispiel steht für viele ähnliche, die mit jeder Neuerung im Fremdsprachenunterricht verbunden waren und sind. Sie alle erinnern an die Äusserungen des Ärgers über die «heutige Jugend», die sich seit 2500 Jahren der immergleichen Worte bedienen. Der Mechanismus ist einfach: Man nimmt ein durch die Erinnerung verklärtes Idealbild zum Massstab und misst daran die Gegenwart, die sich an ganz anderen Kriterien orientiert. Ein paar korrekte französische oder englische Sätze nützen wenig, wenn ihr Preis ein verbreiteter Verzicht auf das Sprechen aus Angst vor Fehlern ist. Oder man stellt Ansprüche, die in der Realität nicht zu erfüllen sind. Wirklich beherrschen lernt man eine Fremdsprache auch heute noch, wenn man sich länger im Sprachgebiet aufhält.
Wir stehen vor einer Reihe von Volksabstimmungen über den Fremdsprachenunterricht in der Volksschule: In mehreren Kantonen wird die Verlegung des Unterrichts in einer zweiten Fremdsprache auf die Oberstufe gefordert. Diese Forderung ist bereits vor einem Jahrzehnt in verschiedenen Kantonen zurückgewiesen worden. Jetzt hat sie im Windschatten der Kritik am Lehrplan 21 wieder an Kraft gewonnen – allerdings hat sie letztes Jahr im Kanton Nidwalden auch schon einen Dämpfer erlebt. Die Initiativen sind deshalb knifflig, weil sie am Sprachenkompromiss der Erziehungsdirektoren von 2004 rütteln, der auch der Harmonisierung der Volksschulen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts widerstanden hat. Damals war der Zürcher Erziehungsdirektor Ernst Buschor mit der Einführung von Frühenglisch vorgeprescht und hatte namentlich in der Romandie einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Vom Sprachenstreit war fortan die Rede. Im mühsam errungenen Kompromiss einigte man sich darauf, Englisch als Erstsprache in der Ostschweiz zu akzeptieren, machte aber das Unterrichten einer zweiten Landessprache in der Primarstufe zur Bedingung.

Die gültige Regelung ist also zwar im Hintergrund pädagogisch motiviert, aber bildungs- und staatspolitisch geprägt. In der Ostschweiz laufen die Abstimmungen darum in erster Linie auf einen Entscheid für oder gegen Französisch in der Primarstufe hinaus. Dies zeigt das Beispiel des Thurgaus, der bereits beschlossen hat, mit dem Französischunterricht erst in der Sekundarstufe zu beginnen. Er handelte sich die ernstzunehmende Drohung des Bundesrats ein, das Unterrichten der zweiten Landessprache in der Primarstufe über eine Änderung des nationalen Sprachengesetzes durchzusetzen. Der Thurgau müsste dann das beliebte, mindestens anfänglich leichter zu erlernende und im Alltag der Kinder präsente Englisch in die Sekundarschule verschieben, will er am Prinzip festhalten, in der Primarstufe nur eine Fremdsprache anzubieten.

Wäre das so schlimm? Im Kanton Zürich hat sich der Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV) zum Aushängeschild der Volksinitiative gegen die zweite Fremdsprache in der Primarstufe entwickelt. Er findet: nein. Und er argumentiert damit, dass er an einer sowohl pädagogisch wie auch politisch tragfähigen Lösung interessiert sei. Die Frage lautet: Ist sein Rezept besser als die bestehende Lösung mit zwei Fremdsprachen in der Primarstufe? Politisch ist das offensichtlich nicht der Fall; der Kompromiss ist nach wie vor akzeptiert. Über die pädagogischen Argumente streiten sich die Experten. Fakt ist, dass es keine Evidenzen gibt, die eindeutig für das eine oder das andere Modell sprechen. So entpuppen sich die seit Jahren wenig veränderten pädagogischen Positionen sowohl der Befürworter wie der Gegner der frühen Mehrsprachigkeit als stark von den grundsätzlichen Einstellungen gegenüber Veränderungen in der Schule (und der Gesellschaft) geprägt.

Das Leiden im frühen Französischunterricht
Wie viel Deutsch braucht es, bevor man sinnvollerweise mit Fremdsprachen beginnt? Beeinflusst das Erlernen von Fremdsprachen nicht umgekehrt die Kompetenz in Deutsch positiv? So und ähnlich lauten die Fragen. Zu sprachlastig sei die Primarstufe, kritisieren die Initianten. So komme das Interesse der Schüler an Naturwissenschaft, Geschichte und Technik zu kurz. Generell überfordere und entmutige der Fremdsprachenunterricht die Schüler. Fragt sich nur, ob die Motivation in der Sekundarstufe grösser wäre und ob dort andere wichtige Inhalte nicht ebenso Gefahr liefen, verdrängt zu werden. Letztlich geht es in diesen Diskussionen um die Frage, welcher Fächer- und Themenmix in welcher Phase der Volksschulbildung am sinnvollsten ist. Die Antwort muss primär aus der Schule kommen. Dort kollidieren die gesellschaftlichen Erwartungen mit den pädagogischen Alltagserfahrungen. Im Kanton Zürich wird das laufende Vernehmlassungsverfahren zum Lehrplan 21 ein Ergebnis liefern.

Trotzdem kann die Lösung der Fremdsprachenfrage nicht einfach an die Schule delegiert werden. Wir leben in einem Land, in dem nicht vier, sondern hundert Sprachen gesprochen werden. Wir bewegen uns im Pendlerzug, auf dem Sportplatz, im Büro und auf dem Pausenplatz in einer polyglotten Gesellschaft. Von der Schule muss erwartet werden, dass sie nicht nur dafür sorgt, dass Deutschschweizer und Romands sich untereinander in einer Landessprache austauschen und mit dem Rest der Welt auf Englisch verständigen können. Sie muss Lust auf mehr erzeugen, dazu anregen, sich auch auf andere Sprachen und die dahintersteckenden Kulturen einzulassen, auch ohne Anspruch auf Perfektion. Sie muss, würden die Wissenschafter sagen, den Boden für die funktionale Mehrsprachigkeit unserer Gesellschaft bereiten.

Wie aber will sie dieses Ziel erreichen, wenn es ihr in einem Vierteljahrhundert mit Frühfranzösisch nicht gelungen ist, bei Lehrern und Schülern verbreitet Begeisterung oder wenigstens Freude am Kennenlernen des Nachbarn und seiner Sprache zu wecken? Mit der Verlegung des Unterrichts auf die Sekundarstufe kommt man diesem Ziel nicht näher. Und die Feststellung, man gelange nur mit wenigstens sechs Wochenstunden auf einen grünen Zweig, hilft nicht weiter. Ihr kann auf keiner Volksschulstufe entsprochen werden. Verbessern lässt sich die Motivation von Lehrkräften und Schülern auf zwei Weisen. Erstens muss der Unterricht stärker auf das Erleben statt das Erlernen einer Sprache setzen. Dazu gehören das Sprechen, das Hören und das Schreiben in realen Situationen statt in abstrakten Rollenspielen, aber auch wechselseitige Besuche und Sprachaustausch. Französisch darf sich nicht wie ein Berg von unbewältigtem Lernstoff anfühlen. Deshalb sind zweitens die Erwartungen realistischer einzuschätzen. Von Primarschülern grammatikalische Kompetenzen einzufordern, die ihnen nicht zugänglich sind, ist kontraproduktiv. Für viele Schüler endet der Fremdsprachenunterricht nach der Volksschule. Wenn diese bis dann ein persönliches Maximum an sprachlichen Fähigkeiten erworben und dabei die Lust nicht verloren haben, hat die Schule alles richtig gemacht.


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