28. August 2016

Auf den Hund gekommen

«Wenn ich traurig bin, tröstet mich Yoshi», sagt Anna*. «Manchmal kommt er zu mir, und ich kann ihn streicheln.» Das Mädchen aus der sechsten Klasse von Lehrerin Sandra Bucher spricht freimütig über ihre Gefühle, wenn es um den Schulhund geht. Auch Beni, ein Knabe mit Tendenz zu unkontrolliert aggressivem Verhalten, wird sanft, wenn er schildert, wie ihn Yoshi einmal aus der WC-Kabine lockte, in die er sich im Ärger eingeschlossen hatte. «Er hat den Ball unter der Türe durch geschubst, weil er mit mir spielen wollte.» Und besonders toll findet Lena, «wenn wir in der Turnstunde mit Yoshi im Wald spielen gehen».
Yoshi bringt Ruhe in die Klasse, NZZaS, 28.8. von René Donzé


Die Hände der 18 Schülerinnen und Schüler fliegen nur so in die Höhe, wenn sie von Yoshi erzählen dürfen. Der knapp 2-jährige Border Collie mit etwas Entlebucher Sennenhund im Blut begleitet seine Lehrerin praktisch täglich in die Schule Würenlos (AG). Manchmal liegt er einfach auf seiner Matte unter der Wandtafel, oft wandert er zwischen Stühlen und Bänken umher, lässt sich streicheln und zieht weiter. «Häufig geht er genau zu jenen, die etwas auf dem Herzen haben oder gestresst sind», erzählt Bucher.

In Schwyz nicht erlaubt
Yoshi ist Klassenmitglied und Schulassistent in einem. «Seine Anwesenheit beruhigt die Kinder und lässt sie konzentrierter arbeiten», sagt Bucher. «Gleichzeitig fördert er die Empathie und das Sozialverhalten.» An der Wand hängen Regeln, von den Schülern selbst geschrieben, an die sich alle halten müssen: «Nicht schreien, nicht rennen, den Hund in Ruhe lassen, wenn er sich zurückzieht», heisst es unter anderem. «Wenn es einmal laut wird, dann halten sich die Kinder gegenseitig wieder zur Ruhe an», sagt Bucher.

Yoshi ist bei weitem nicht der einzige Hund, der regelmässig mit einer Lehrerin zur Schule geht. Der Verein Schulhunde Schweiz, erst vor gut drei Jahren gegründet, hat bereits 140 Mitglieder. Präsidentin Lorena Singy schätzt, dass es bereits 200 bis 300 Schulhunde in der ganzen Schweiz gibt. Längst nicht alle stehen die ganze Woche im Einsatz, oft sind sie nur tage- oder lektionenweise im Schulzimmer.

Allerdings sind die Tiere nicht überall willkommen. So hat die Bildungsdirektion des Kantons Schwyz ein Verbot für Hunde verfügt: wegen ängstlicher Kinder, Haftungs- und Hygienefragen und weil die schulische Notwendigkeit nicht gegeben sei, wie die Direktion mitteilt. Im Kanton Aargau hingegen liegt der Entscheid bei der Schulleitung und der Schulpflege. Allein in Würenlos gehen fünf Hunde in die Schule und einer in den Kindergarten. «Die Erfahrungen sind rundum positiv», sagt Schulleiterin Claudia Stadelmann. Wichtig seien klare Regeln und die Möglichkeit, dass Eltern ihr Kind in eine Klasse ohne Hund schicken können. «Bis jetzt hat das aber niemand gefordert. Im Gegenteil: Manche wünschen ausdrücklich eine Hundeklasse für ihr Kind.»

Warum das so ist, lässt sich an den Augen der Schüler ablesen, wenn sie mit Yoshi ein Kunststück zeigen dürfen. Lena legt ihm ein Guetsli auf die Schnauze, sagt: «Warten!» Erst auf «Nimm!» katapultiert er es in die Luft und schnappt es sich. Dass solche Nummern nicht immer einfach sind, muss Diego erfahren: Der Hund will zuerst nicht über den Stab springen, den zwei Mitschüler halten. Erst nach mehreren Anläufen gelingt der Trick. Die Kinder lernen, Abläufe einzuhalten und klare Anweisungen zu geben. Dann wird wieder ruhig gearbeitet. Yoshi geht in seine Box neben dem Lehrerpult. Er ist offensichtlich müde. Diego geht zur Wandtafel und schiebt sein Bild auf dem «Glücksbarometer» auf die Maximalzahl 10.

Eine Untersuchung des Wiener Instituts für die interdisziplinäre Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung kommt zum Ergebnis, «dass Hunde in der Klasse bedeutende Katalysatoren für die Entwicklung von Sozialverhalten und der sozialen Integration in Gruppen sind». Resultat: bessere Stimmung, mehr Lernfreude, weniger Aggression in der Klasse. «Vor allem Buben profitieren verstärkt», schreiben die Autoren. Eine andere Studie stellt fest, dass Kinder, die vor einer schwierigen Aufgabe einen ihnen bekannten Hund streicheln durften, weniger Stresshormone im Speichel hatten.

Ausbildung ist wichtig
Der Schulhunde-Boom in der Schweiz der letzten Jahre hat auch seine Kehrseiten. «Nur eine Minderheit aller Schulbegleithunde ist adäquat ausgebildet», sagt Barbara Rufer. Die gelernte Primar- und Sekundarlehrerin ist Dozentin am Freiburger Institut für tiergestützte Therapie und schult jedes Jahr gegen 50 Schulbegleithundeteams – also Hund und Halter. «Schlechte Beispiele führen dazu, dass wir immer wieder um Akzeptanz kämpfen müssen», sagt Rufer. Zudem brauche es das nötige Wissen, um mit dem Hund in der Klasse gute Ergebnisse zu erzielen. Auch die Tiertherapeutin Therese Germann-Tillmann schätzt, dass weniger als die Hälfte aller Schulhunde angemessen trainiert und geprüft worden sind. Oft würden die Hunde auch überfordert, kritisiert sie. «Das kann sogar zum Burnout führen.»
Auch Yoshi ist noch kein ausgelernter Schulhund. Lehrerin Bucher hat mit ihm die üblichen Hundekurse besucht und die Prüfung zum Begleithund I absolviert. Im Moment belegt sie Seminare bei Schulhunde Schweiz und bereitet sich auf die Therapiehundeausbildung mit Yoshi vor.

Für heute hat der Hund genug geleistet: Schüler und Lehrerin gehen Basketball spielen. Yoshi geniesst die Ruhe im Zimmer. Nächste Woche wird es streng für ihn: Im Klassenlager wird er seine Qualitäten als Hütehund beweisen. «Er hält bei Ausflügen seine Schäfchen immer schön zusammen», sagt Bucher.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen