26. August 2016

Buschor und Reynard zum Französischunterricht

Wann hatten Sie zuletzt Schwierigkeiten, sich auf Deutsch oder Französisch auszudrücken?
Mathias Reynard: Das war bei meiner Eröffnungsrede im Nationalrat 2011. Mein Deutsch war damals sehr schlecht. Für mich war das ein Schlüsselmoment: Ich habe realisiert, dass ich die Sprache unbedingt besser lernen muss. Das habe ich dann auch gemacht.
Ernst Buschor: Bei mir war das kürzlich während eines Interviews mit einem Westschweizer Radio. Ich konnte nicht rasch sprechen und musste nach Worten suchen. Früher war mein Französisch viel besser, weil ich zwei Jahre in Frankreich gelebt hatte.
 
Buschor ist Co-Präsident des Forums Bildung. Reynard ist Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK). Bilder: Raffael Waldner
"Wir müssen eine Grenze ziehen", Tages Anzeiger, 26.8. von Raphaela Birrer und Salome Müller


Die Schweiz führt zurzeit eine Diskussion über das Frühfranzösisch. Worum geht es eigentlich?
Buschor: Im Zentrum stehen zwei ­Fragen: Sollen in der Primarschule zwei Fremdsprachen gelernt werden? Und welche soll die erste sein?
Reynard: Seit 2004 gibt es einen Kompromiss der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK). Er sieht vor, dass die Kantone ab der dritten Klasse die erste Fremdsprache und ab der fünften Klasse die zweite einführen. Eine davon muss eine andere Landessprache sein. Die Romandie hält sich daran, in der Deutschschweiz wollen nun immer mehr Kantone davon abweichen und das Französisch erst in der Oberstufe einführen.

Aber worum geht es wirklich? Die Debatte verläuft sehr emotional.
Buschor: Dass Englisch in der Deutschschweiz mittlerweile als wichtigere Fremdsprache betrachtet wird, ist in der Romandie schwer zu verstehen. Schliesslich ist Englisch keine nationale Sprache.
Reynard: Die Mehrsprachigkeit ist das Wichtigste in unserem Land – le fondement. Ich möchte keine Schweiz, in der ein Zürcher und ein Walliser Englisch miteinander sprechen.
Buschor: Niemand bestreitet, dass die Mehrsprachigkeit wichtig ist. Auch der Thurgau nicht, der nun das Frühfranzösisch abschaffen will. Dort müssen die Schüler bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit ebenfalls Französisch beherrschen – dazu sind alle Kantone verpflichtet. Ab wann genau die Kinder die Sprache lernen, ist zweitrangig.

Für Bundesrat Alain Berset ist dies auch eine Frage des nationalen Zusammenhalts.
Buschor: Der Zusammenhalt hängt doch von viel gewichtigeren Faktoren ab – zum Beispiel davon, wie das wirtschaftliche Potenzial im Land verteilt ist. Anders als etwa im zweisprachigen Belgien zeigen sich solche Unterschiede in der Schweiz nicht zwischen den Sprachgebieten. Finanzstarke und -schwache Kantone sind auf alle Landesteile gleichermassen verteilt.
Reynard: Aber bei dieser Frage geht es doch um mehr als nur den Wortschatz, den man in der Schule lernt. Eine Fremdsprache steht für eine andere Kultur, eine vision du monde. Die Schüler in der Westschweiz sollen wissen: Wir sind nicht nur Romands, in der Schweiz gibt es verschiedene Kulturen, und die sollten wir kennen.

Und den Deutschschweizern fehlt dieses Bewusstsein?
Reynard: In manchen Kantonen mangelt es eindeutig an Sensibilität. Die Thurgauer zum Beispiel verletzen uns damit, dass sie das Französisch auf die Oberstufe verschieben wollen. Als Sekundarlehrer weiss ich, dass es für die Schüler schwierig ist, eine andere Landessprache zu lernen. Es braucht die Jahre in der Primarschule, um ausreichend Sprachkompetenz zu erlangen. Zudem kann man doch ein Fach nicht einfach abschaffen, nur weil es keinen Spass macht. Oder sollen wir auch auf Mathematik verzichten?
Buschor: Machen Sie sich keine Sorgen: Kantone wie Thurgau, Uri oder Appenzell Innerrhoden werden sich längerfristig an den EDK-Kompromiss halten. Denn für kleinere Kantone ist es auf Dauer zu teuer, nur für die Oberstufe ein eigenes Lehrmittel zu entwickeln.
Reynard: Es geht aber nicht mehr nur um diese Kantone, sondern um eine allgemeine Tendenz, die uns besorgt. Mittlerweile sind vielerorts Initiativen hängig, die den Sprachenkompromiss aushebeln wollen.
Buschor: Trotzdem wird es nicht zu einem Flächenbrand kommen. Letztlich werden sich die Kantone auf die gemeinsam beschlossene Sprachenpolitik besinnen. Lassen wir ihnen doch noch ­etwas Zeit.

Nehmen die Deutschschweizer mit ihren Beschwichtigungen die welschen Bedenken zu wenig ernst?
Reynard: Es gibt eine Ausgeglichenheit in der Schweiz, aber sie ist sehr fragil. Damit müssen wir behutsam umgehen. Dass der Kanton Thurgau das Frühfranzösisch abschaffen will, empfinden wir Romands als arrogant. Das bedeutet nämlich, dass er unsere Sprache nicht für nötig hält.
Buschor: Mit dieser Ausgeglichenheit spielen wir Deutschschweizer ja auch nicht. Englisch eignet sich einfach besser als Einführungssprache – das richtet sich nicht gegen die Romands. Die Sprachenfrage wird von der Westschweiz zu ­ideologisch und zu wenig faktenbasiert diskutiert.
Reynard: Das stimmt nicht. Tatsache ist, dass die Kantone sich 2004 auf den Sprachenkompromiss geeinigt haben. Und jetzt macht plötzlich jeder Kanton, was er will. Der Bund hat deshalb die Pflicht einzugreifen. So steht es in der Verfassung.
Buschor: Die Appenzell Innerrhoder weichen zwar schon heute vom Sprachenkompromiss ab; Französisch beginnt dort erst in der Oberstufe. Davon hat die Schweiz keinen Schaden genommen. Kritischer würde es, wenn ein grosser Kanton wie Zürich ausscheren würde. Dennoch bin ich gegen einen Eingriff des Bundes in die kantonale Bildungshoheit – aber für den EDK-Kompromiss.
Reynard: Die obligatorische Schulzeit ist Sache der Kantone, da gebe ich Ihnen recht. Aber wir haben auch eine Bundesverfassung. Und dort ist festgehalten, dass die Kantone das Schulwesen harmonisieren müssen. Diesen Bildungsartikel hat die Bevölkerung 2006 mit einer grossen Mehrheit von 86 Prozent gutgeheissen. Wird dieses Ziel nicht erreicht, muss der Bundesrat eingreifen.
Buschor: In der Bundesverfassung steht aber nicht, dass Französisch in der Primarschule unterrichtet werden muss, sondern nur, dass bestimmte Ziele für alle Kantone gelten. Wenn der Bundesrat nun ein neues Gesetz erlassen will, wird mit Sicherheit das Referendum ergriffen. Viele Deutschschweizer würden bei einer Volksabstimmung gegen einen Zwang zum Frühfranzösisch stimmen. Nicht weil sie das Französisch nicht wollen, sondern weil sie dagegen sind, dass sich der Bund in unserem föderalistischen System in die Primarschule einmischt. Und dann haben wir endgültig einen Sprachenkrieg, in dem es nur Verlierer gibt. Davor habe ich Angst.
Reynard: Ich nicht – im Gegenteil. Ich bin sicher, dass wir eine Abstimmung gewinnen würden. Denn die Mehrheit der Bevölkerung ist für die Harmonisierung des Schulwesens: Das hat sie 2006 mit dem Ja zum Bildungsartikel schon einmal gezeigt.
Buschor: Die SVP wird aber den Abstimmungskampf führen – und eine föderalistische Lösung fordern.
Reynard: Die Parteielite vielleicht schon. Ausgerechnet die Oberpatrioten! Aber was ist das für ein Patriotismus, wenn Englisch dem Französisch vorgezogen wird? Die SVP-Parteibasis hingegen ist für die Landessprache, weil sie weiss, wie wichtig diese für den nationalen Zusammenhalt ist.
Ist Englisch in der Deutschschweiz heute wichtiger als Französisch?
Buschor: Eltern und Schüler finden Englisch relevanter.
Reynard: Englisch ist zwar einfacher zu lernen. Studien belegen aber, dass für die Schweizer Wirtschaft Französisch wichtiger ist.
Buschor: Da habe ich andere Erfahrungen gemacht. Als Bildungsdirektor hatte ich intensiven Austausch mit der Zürcher Handelskammer. Für die Wirtschaft war Englisch schon damals, in den 90er-Jahren, prioritär. Gehen Sie doch einmal durch die Bahnhofstrasse in Zürich, da hören Sie nur Englisch! Der Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich macht sich Sorgen, weil nur wenige angehende Primarlehrer Französisch wählen. Und zweisprachige Gymnasien sind nur mit Englisch gefragt. Da muss die Politik gegensteuern und dem Französisch einen hohen Stellenwert geben.

Dass Französisch an Stellenwert verloren hat, haben Sie, Herr Buschor, als Bildungsdirektor mitverursacht. Zürich hat in den 90er-Jahren als erster Kanton das Frühenglisch eingeführt.
Buschor: Trotzdem würde ich es wieder gleich machen. Sonst würden wir noch heute darüber diskutieren, ob und wie das Frühenglisch eingeführt werden soll. Ich hatte damals überhaupt kein Problem, für den Schulversuch an Geld zu kommen – die Zürcher Wirtschaft beteiligte sich grosszügig an den Kosten.
Reynard: Das war keine gute Lösung. Der Zürcher Beschluss spielt in der aktuellen Debatte immer noch eine Rolle. Zuerst wollten die Zürcher in der Primarschule Französisch erst nach dem Englisch einführen. Und jetzt soll Französisch in anderen Kantonen sogar erst auf der Sekundarstufe unterrichtet werden. Was folgt als Nächstes? Gar kein Französisch mehr, ist ja klar!
Buschor: Nein, sicher nicht. Noch einmal: Niemand entscheidet sich gegen das Französisch. Die Lektionenzahl wird auch in jenen Kantonen, die Französisch erst in der Oberstufe unterrichten wollen, bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit ähnlich sein.
Reynard: Aber wie soll das funktionieren? Würde dann der Stundenplan in der Oberstufe 50 Lektionen pro Woche umfassen? Fakt ist doch: Wenn mehr Französischstunden eingeführt werden sollen, ginge das zwangsläufig auf Kosten anderer Fächer. Und auf welche? Mathematik, Deutsch, Sport?
Buschor: Nein. Dann wird das Englisch reduziert.
Reynard: Englisch ist aber auf der ­Sekundarstufe auch sehr wichtig.

Sie streiten über den richtigen Zeitpunkt, um Französisch einzuführen. Dabei wäre doch die Didaktik für den Lernerfolg viel entscheidender.
Buschor: Ja, der Fremdsprachenunterricht muss dringend besser und moderner werden. Da bestehen noch viele didaktische Defizite. Die Forschung zeigt, dass sowohl die Deutsch- als auch die Westschweizer Schüler den Sprachunterricht langweilig finden. Die Lektionen müssten lockerer und dialogorientierter sein. Wahrscheinlich ist der Schaden, der dadurch entsteht, viel grösser als jener durch den Sprachenstreit.
Reynard: Absolument. Dafür braucht es aber mehr Geld. Das Potenzial wäre gross: Man könnte zum Beispiel in ­Austauschprogramme zwischen der Deutsch- und der Westschweiz investieren. Im Wallis machen wir das schon: Jedes Jahr habe ich einige Schüler aus dem Oberwallis in meiner Klasse.

Viele Deutschschweizer finden, dass die Welschen schlecht Deutsch sprächen. Herr Reynard, Sie selbst haben die Sprache erst als Nationalrat gelernt. Hat der Schulunterricht nichts gebracht?
Reynard: Mein Deutsch ist nicht perfekt, aber ich verstehe die Sprache und kann ein bisschen sprechen. Das ist doch das Wichtigste. Als Nationalrat konnte ich nur so schnell Deutsch lernen, weil bereits in der Primarschule und im ­Gymnasium die Grundlage dafür gelegt worden ist.
Buschor: Darum ist es ja auch unbestritten, dass in der Deutschschweiz auch im Gymnasium das Französisch gleichwertig wie das Englischniveau sein soll. Wir müssen in den Anschlussausbildungen den Stellenwert von Französisch hochhalten.
Reynard: Aber nicht alle Schüler gehen ins Gymnasium. Darum ist es sehr wichtig, dass sie die Sprache schon in der obligatorischen Schule lernen.
Buschor: Natürlich ist das wichtig. Aber wann genau sie damit beginnen, spielt eine untergeordnete Rolle. Und in der Berufslehre, die immerhin 60 Prozent der Jugendlichen absolvieren, wird Französisch auch unterrichtet.

Das Französisch könnte ja in unzufriedenen Kantonen versuchsweise in die Oberstufe verschoben werden. Eine Evaluation würde dann Fakten für die Diskussion liefern.
Reynard: Wie soll es möglich sein, innert drei Jahren die gleichen Ziele zu erreichen wie in sieben Jahren?
Buschor: Appenzell Innerrhoden hat das bereits untersucht und festgestellt, dass das Niveau gleichwertig ist. Sie konzentrieren das Zürcher Lehrmittel auf drei Jahre. Es ist also möglich.
Reynard: Das wirkt wie eine Lotterie, wenn jeder Kanton macht, was er will. Wir können nicht mit den Schülern und der Bevölkerung spielen. Als Politiker müssen wir eine Grenze ziehen. Das ist unsere Aufgabe.

Mathias Reynard (SP)

1 Kommentar:

  1. Die Ventilatoren des Nichts kann man nicht an ihren Worten messen, sondern im Gegenteil, an ihrer Sprache (W. Droste).

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