Als
ich Lino kennenlernte, hatte er mit der zweiten Klasse bereits begonnen. Man sagte
mir, dass er in der Mathematik sehr schlecht sei und dass er dort, wo Unsinn
veranstaltet wird, anzutreffen sei. Beides stellte sich als zutreffend heraus.
Bald fiel mir aber auf, dass Lino auch feinfühlig und sehr witzig ist. Ich
unterrichte sehr gerne Mathematik. Im ersten Schuljahr lösen die Kinder
Aufgaben im Zahlenraum bis 20. Am Ende des Jahres beschäftigen sie sich mit Aufgaben
wie 19+3 oder 15–9. Diese Aufgaben beinhalten den Zehnerübergang, welcher für
den Aufbau der Mathematik sehr wichtig
ist. Bei
den Aufgaben der zweiten Klasse kommt der Zehnerübergang wieder vor, allerdings
im Hunderterraum (59+3 oder 85–9).
Lino und die Zahlen, 17.8. von Anne Flachsmann
Ich
begann die erste Lektion mit dieser Klasse, indem ich ihnen diesen Zusammenhang
erklärte. An der Wandtafel rechnete ich ihnen vor und
forderte
sie auf immer mitzudenken: "Wer klug ist, rechnet immer mit. So löst ihr zehn
Rechnungen, nicht nur die eigene!"
Als
ich mit der ersten Rechnung fertig war, meldete sich Lino: "Das habe ich
nicht verstanden." Ohne Kommentar rechnete ich der Klasse weitere zwei
Aufgaben vor und spürte deutlich, dass die Kinder mir aufmerksam folgten. Darauf
löste jedes Kind eine Aufgabe an der Wandtafel, wobei die Reihenfolge
freiwillig war, die Teilnahme jedoch nicht. Als etwa die Hälfte der zehn Kinder
gerechnet hatte, meldete sich Lino wieder: "Ich habe es ein bisschen
verstanden." Als er als Letzter an der Reihe war, bewältigte er die
Aufgabe mit meiner Hilfe. Danach meinte er: "Jetzt habe ich es , glaube
ich, fast verstanden." Seine Selbsteinschätzung traf hier wie in anderen
Fällen zu. zu. Die Klasse blieb bis zum Schluss aufmerksam und konzentriert.
Mit
dieser Vorgehensweise beim Lernen neuer Lerninhalte habe ich guten Erfolg. Die
Schüler können einen Rechenvorgang mehrmals nachvollziehen und melden sich erst,
wenn sie sich in der Lage fühlen, die Aufgabe zu bewältigen. Weil alle Kinder
zu Beginn wissen, dass auch sie vorrechnen werden, denken sie in der Regel mit.
So haben sie bereits einige Übung, wenn sie später im eigenen Heft arbeiten
sollen. Es entsteht eine ruhige Stimmung, weil alle mitgenommen werden und sie gleichzeitig
voneinander lernen können.
Am
Ende der Mathematiklektion kam Lino zu mir: "Weisst du, warum ich gerne bei
dir Mathematikunterricht habe? Du erklärst es mehrmals und lässt mir Zeit."
Dies war der Auftakt zu unserem gemeinsamem Lernen.
Lino
beherschte die Grundlagen der ersten Klasse tatsächlich nicht und scheiterte
oft. Er klammerte sich an irgendwelche Regeln, die er anderswo angewandt hatte.
"Aha", erklärte er beispielsweise, "du musst immer die hintere
Zahl zur vorderen zählen." So fiel es ihm äusserst schwer sich auf meine
Erklärungen einzulassen. Ich veranschaulichte meine Gedanken mit wenig
ausgesuchtem Material und achtet darauf, ihn nicht mit verschiedensten Lösungsansätzen
einzudecken. Und ich stellte mich darauf ein, dass er meist nur einen geringen
Teil meiner Anleitung aufnahm. Eine grosse Hilfe hingegen war bei unserer gemeinsamen
Arbeit, dass er sehr prompt darüber Auskunft geben konnte, wo er steht.
Zwei
Monate später lernte ich anlässlich des Zeugnisgesprächs seine Mutter kennen.
Ich legte ihr dar, dass Lino in der Mathematik nur knapp genügend sei. Mir sei
allerdings aufgefallen, dass er in anderen Fächern viele interessante Gedanken einbringe,
die von einer wachen Intelligenz zeugen würden. Im Unterschied dazu denke er in
Mathematik nicht flüssig mit. Ich sei mir aber sicher, dass ihm dies auch in
der Mathematik gelingen könne, zumal ihm dazu nichts fehle.
Die
Mutter fühlte ihren Sohn von meiner Schilderung so erfasst, dass sie genauso
offen und spontan wie er reagierte. Sie erzählte mir, wie sie als Kind in der
Mathematik ebenfalls versagt hatte und ihr Vater dafür kein Verständnis aufbrachte.
Obwohl sie inzwischen eine anspruchsvolle Tätigkeit im Sozialwesen bekleide, sitze
ihr der Respekt vor den Zahlen noch immer in den Knochen. Beim Lernen mit ihrem
Sohn werde sie nervös. Ich konnte dies nachvollziehen und wir entschieden uns,
dass die ältere Schwester diese Aufgabe in Zukunft übernehmen werde.
Es
war mir im Gespräch gelungen, mit der Mutter von Lino ein Arbeitsbündnis zu
schliessen. Die Arbeit mit ihm würde von nun an eine gemeinsame sein.
Bei
der Begrüssung am nächsten Morgen sagte Lino als Erstes: "Als meine Mutter
gestern nach Hause kam, war sie sehr stolz auf mich." Sie hatte ihn
natürlich nicht für die kaum genügende Mathematiknote loben können, aber meine ermutigende
Sicht ins Gespräch mit ihrem Sohn einfliessen lassen.
Nach
drei Monaten begannen wir mit dem kleinen Einmaleins. Ich hoffte, dass Lino hier
einen besseren Zugang zur Mathematik
finden würde. Das Thema beinhaltete keine nicht verstandenen Lerninhalte aus der
ersten Klasse und viele Schüler lieben das Einmaleins, weil sie mit Auswendiglernen
der Reihen zu guten Resultaten kommen.
Nicht
so Lino. Die Zweierreihe schien mir kein Problem für ihn zu sein, da
Zweierschritte einfach und bekannt sind. Doch wenn ich ihn nach dem Resultat
von 2 mal 2 fragte, erhielt ich keine
Antwort. Er hatte sich offenbar noch nicht entschlossen, über Zahlen ernsthaft
nachzudenken.
Ohne
mich beindrucken zu lassen, lernten wir eine Reihe nach der andern. Die ganze
Klasse entwickelte eine zunehmende Begeisterung und lernte gern. Lino auch, jedoch
sehr langsam. Es gab Stunden, während deren er höchstens zwei Rechnungen löste
– den Rest der Zeit schwatzte oder trödelte er. Auch beim Unfug treiben war er
weiterhin sehr aktiv dabei.
Eines
Tages gab ich der Klasse eine Mathematikprüfung zurück. Alle freuten sich, weil
sie gute Noten hatten. Lino war der einzige, dessen Note ungenügend war. Er
sass da und schaute dem fröhlichen Treiben mit finsterem Blick zu. Er konnte
inzwischen die Reihen einigermassen, war aber viel zu langsam. Obwohl er mir
leid tat, sagte ich kein tröstendes Wort zu ihm. Die Realität war
unumstösslich.
Seinen
Humor verlor es allerdings nie. Immer wieder war er beispielsweise der
Überzeugung, 6 – 6 gebe 1. Ich erklärte
ihm: Aber denk mal, wenn du sechs Gummibärchen hast und ich nehme dir sechs
weg, dann hast du doch keines mehr!" Er schaute mich kurz an und
erwiderte: "Das sag ich meiner Mutter!"
Bei
der nächsten Prüfung kam er sieben Minuten nach Beginn bereits mit dem Blatt in
der Hand zu mir. Dies war nichts Ungewöhnliches, er hatte diese Angewohnheit.
Mit leuchtenden Augen fragte er mich: "Was denkst du? Komme ich um dich
etwas zu fragen oder weil ich fertig bin?" Ich entgegnete: "In deinen
Augen sehe ich, dass du fertig bist." "Es stimmt", rief er,
"ich bin fertig!". Er hatte sich seinen Traum, auch einmal zu den
Schnellen zu gehören erfüllt. Ich war auf das Prüfungsergebnis gespannt und tatsächlich:
Alle Rechnungen waren richtig gelöst!
Lino
konnte es am nächsten Tag kaum glauben. Die ganze Klasse freute sich mit!
Offensichtlich hatte er sich über die bisherigen Niederlagen so geärgert, dass
er sich entschloss, auch in der Mathematik vorwärts zu machen.
Nach
sieben Monaten war meine Stellvertretung beendet und ich verabschiedete die
Klasse ein letztes Mal. Die Sommerferien begannen. Das Gedränge in der kleinen
Garderobe war gross. Alle packten und schwatzten aufgeregt durcheinander. Lino
stand im Getümmel vor mir und hatte eine letzte Bitte: "Fragst du mich die
Sechserreihe ab?" Diese war gelernt, aber von mir noch nicht überprüft.
Ich fragte ihn kurzerhand kreuz und quer ab. Er beantwortete alle Rechnungen in
zügigem Tempo fehlerfrei. Gut gelaunt und zufrieden verabschiedete auch er sich.
Ich
bedaure es,Lino nicht mehr weiter unterrichten zu können.
Seine
Entwicklung ist das Resultat einer Kooperation zwischen Lino, seiner Mutter und
mir.
Lino
brachte wie alle Kinder den Wunsch mit, auch gut zu sein. Zudem hat er die günstige
Gabe sich mitzuteilen, er ist aktiv und lernt gerne vom Erwachsenen.
Ich brachte
viel Unterrichtserfahrung und entscheidend die absolute Sicherheit mit, dass
ihm nichts fehlt um Mathematik zu verstehen. Ich konnte mich einfühlen. Als
Schülerin war ich ebenfalls eine schlechte Mathematikerin gewesen. Als ich später
Primarlehrerin werden wollte, gab es keinen andern Weg, als das Problem anzugehen.
Ein Freund und Lehrer begleitete und unterrichtete mich in dieser Zeit mit
grosser Ruhe und Zuversicht. Seine Freude an der Mathematik übertrug sich auf mich. Ich höre ihn heute
noch schwärmen: "Heute beginnen wir mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Anne, du wirst es lieben!"
Diese
sichere, ruhige Stimmung bringe ich heute meinen Schülern entgegen. Mit wenig
didaktischem Firlefanz – bloss mit Kreide, Wandtafel und viel Humor – führe ich
die Kinder ins mathematische Denken ein.
Die Freude
daran, einem Schüler wie Lino weiterhelfen zu können, ist ein zentraler Grund,
weshalb ich immer noch gerne unterrichte.
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