29. August 2016

Mut zur Abschaffung der Hausaufgaben

In den Köpfen der meisten Menschen gehören sie zur Schule wie das Schrillen der Pausenglocke und die Wandtafel – Hausaufgaben. Weil sie in der Familie «zu viel Zoff» verursachen, sollen sie nun abgeschafft werden. Zumindest, wenn es nach den Schulleitungen der deutschen Schweiz geht. Das berichtete gestern die Zeitung «Schweiz am Sonntag». Lisa Lehner ist Vizepräsidentin des Schweizerischen Schulleiterverbands und sagt: «Eltern können heute nicht immer mehr Zeit aufwenden, den Stoff mit ihren Sprösslingen durchzugehen.» Ihr Kollege Bernhard Gertsch, der Präsident des Verbandes, macht sich Sorgen um die Chancengleichheit. Durch die Verlagerung schulischer Aufgaben an das Elternhaus wachse die Kluft zwischen den Kindern, die aufgrund ihrer Herkunft nicht gleich günstige Voraussetzungen mitbringen.
Heilige Kuh der Volksschule, NZZ, 29.8. Kommentar von Seraina Kobler


Wie immer, wenn Kinder im Spiel sind, sorgt auch das Thema Hausaufgaben für eine emotional gefärbte Debatte. Oft hat der Schweizer Bestsellerautor und Kinderarzt Remo Largo in den letzten Jahren Kritik geäussert an den «heiligen Kühen» der Volksschule: Hausaufgaben, Auswendiglernen, Prüfungen und Selektion. Obwohl zahlreiche Studien den «Uufzgi» einen geringen Lernerfolg attestieren und Aufwand und Ertrag in keinem vernünftigen Verhältnis stehen, geniessen sie einen «pädagogischen Heimatschutz». Gründe dafür formuliert etwa der Freiburger Professor und Pädagoge Alois Niggli: «Hausaufgaben greifen in die freie Zeit ein. So lernen Kinder und Jugendliche, dass es ausserhalb der Schulzeit Pflichten gibt, die sie selbständig erledigen müssen.» Bestimmt! Eigenverantwortung und Pflichtgefühl sind wichtige Lehrmeister. Doch müsste die Schule in der Lage sein, diese Eigenschaften und den Stoff innerhalb der ihr zur Verfügung stehenden Zeit zu vermitteln.

Es sollte nicht sein, dass Dinge wie das Vorbereiten eines Vortrages zusehends an die Familie delegiert werden und so in die elterliche Erziehung eingegriffen wird. Nicht in Zeiten, in denen drei von vier Müttern in der Schweiz neben der Familienarbeit noch erwerbstätig sind. Nicht in Zeiten, in denen die Organisation des Alltags deswegen einer Quadratur des Kreises gleichkommt – wenn die Kinder krank sind, zum Zahnarzt müssen oder man nach der Arbeit, mit schlechtem Gewissen, weil man immer irgendwo zu spät ist, an den Elternabend eilt.


Ein verstecktes Mittel zur Abschaffung der Hausaufgaben, das an vielen Orten heute praktiziert wird, sind sogenannte Wochenpläne. Dabei wird innerhalb der Schulstunden Zeit für selbständiges Arbeiten zur Verfügung gestellt. Wäre es nicht mutiger, die Verantwortung gleich ganz zu übernehmen und die Hausaufgaben – auch offiziell – im letzten Jahrhundert zu lassen? Nach dem Grundsatz: Schule ist Schule, und Freizeit ist Freizeit. Die Trennung von Elternhaus und Schule dürfte den Lehrern entgegenkommen – sie klagen viel über die starke Einmischung der Eltern.

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