Selbstständigkeit, Pünktlichkeit oder Konfliktfähigkeit: Mit der
Einführung des Lehrplans 21 erhalten persönliche Eigenschaften der Schüler
einen höheren Stellenwert. Doch wie sollen diese kaum messbaren «personalen und
sozialen Kompetenzen» der Kinder bewertet werden? Und wie können Schüler, die
in diesen «Disziplinen» schlecht abschneiden, solche Kompetenzen üben?
Ältere Kinder beraten jüngere, Bild: Tanja Demarmels
Wenn Lehrer Schüler zu Hilfe rufen, Tages Anzeiger, 22.8. von Anja Burri
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Die Bieler Lehrerin und Weiterbildungsfachfrau Christiane Daepp hat vor
14 Jahren eine ungewöhnliche Antwort auf diese Fragen gefunden. In einer
Primarschule in Biel hat sie das erste Ideenbüro gegründet – eine
Beratungsstelle von Schülern für Schüler. Es begann mit einer scheinbar
ausweglosen Situation. Eine zweite Klasse hatte grosse Probleme mit Mobbing,
Streit und Gewalt. Nach vielen erfolglosen Versuchen der erwachsenen
Lehrpersonen, die Lage zu beruhigen, fragte Daepp eine vierte Klasse um Rat.
Die Idee: Die Achtjährigen orientieren sich stärker an der Meinung von älteren
Schülern als an Ratschlägen von Erwachsenen.
Über hundert Büros
«So etwas gab es noch nie: Die Lehrpersonen wussten nicht weiter und
brauchten die Hilfe der Kinder», sagt Daepp. Was niemand erwartet hatte,
funktionierte: In einer Extrastunde berieten die Viertklässler die
zerstrittenen Zweitklässler. Die Konflikte entschärften sich. Die älteren,
beratenden Schüler erfüllte es mit Stolz, dass man in einer schwierigen
Situation auf sie setzte, und wollten sich weiter engagieren. So entstand das
erste Ideenbüro der Schweiz. «Kinder können viel mehr mitdenken, mitgestalten und
mitverantworten, als man denkt – man muss es ihnen nur zutrauen», sagt Daepp.
Auch dank Förderpreisen und Stiftungsgeldern gibt es mittlerweile an 113Schulen in
der ganzen Schweiz Ideenbüros. Jüngst wurde in Mexiko das erste Büro im Ausland
eröffnet. Ein Verein koordiniert den Aufbau neuer Büros.
Auch wenn jedes Ideenbüro etwas anders ist, gewisse Regeln gelten: So
sind es die ältesten Kinder im Schulhaus, die jüngere beraten. Die Mitarbeit im
Ideenbüro ist freiwillig. Die Kinder dürfen dafür eine Schulstunde pro Woche
aufwenden. Wer ein Anliegen hat, meldet sich mit einem Formular beim Ideenbüro
an. Die Fünft- und Sechstklässler, die sich im Ideenbüro engagieren, werden vom
Schulsozialarbeiter oder von einer Lehrperson betreut. Oft tragen die Kinder
Probleme wie Mobbing, Streit oder Auslachen in die Ideenbüros. Schwierige oder
strafrechtlich relevante Fälle werden sofort an die Klassenlehrkräfte oder an
die Schulsozialarbeit abgegeben. Viele Schüler wenden sich auch mit
Lernproblemen an die älteren Schüler.
Schulsozialarbeiter Stefan Kirchhof hat vor drei Jahren in einer
Aargauer Gemeinde ein Ideenbüro gegründet. Längst nicht immer gebe es Probleme
zu lösen, sagt er. In solchen Fällen generieren die Ideenbüros selber Ideen,
wie der Schulalltag verbessert oder verschönert werden könnte. Die Kinder in
Kirchhofs Ideenbüro zum Beispiel begannen, auf dem Pausenplatz Abfall
aufzusammeln. In anderen Ideenbüros dreht sich die Hälfte der Fälle um
Fussball: Schiedsrichterfragen kommen genauso vor wie die Organisation von
Turnieren. Andere Büros veranstalten Filmabende, Klassenpartys, einen
Ideentauschmarkt, ein Treffen mit Flüchtlingen oder
Geschichtenschreibwettbewerbe. «Das Ideenbüro gibt den Schülern die
Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu zeigen», sagt Daepp. Es komme oft vor, dass
ausgerechnet verhaltensauffällige Schüler oder solche mit Lernschwierigkeiten
im Ideenbüro aufblühten: «Kinder, die in der Klasse negativ auffallen, sind im
Ideenbüro Experten fürs Streiten.» Das Ideenbüro ist also ein geeigneter Ort,
um die sozialen Kompetenzen der Schüler zu entwickeln, wie sie im neuen Lehrplan 21 verlangt
werden: Dialogbereitschaft, das Arbeiten in Gruppen oder das Lösen von
Konflikten. Von einem Eintrag im Schulzeugnis rät Ideenbüro-Gründerin Daepp
aber ab. Werde das Ideenbüro einer Schule oder den Kindern verordnet, verliere
es eine seiner wichtigsten Eigenschaften – die Freiwilligkeit. Es lebe davon,
dass es nichts mit dem äusseren Lern- und Leistungsdruck der Schule zu tun
habe.
Sozialkompetenz gefragt
Die Freiwilligkeit birgt auch Schwierigkeiten. Nicht alle Lehrkräfte
sind begeistert, wenn sie ihre Schüler einmal pro Woche ans Ideenbüro abgeben
müssen. «Als Lehrperson ist man versucht, den Schülern ständig etwas zu liefern
oder anzubieten, um ihre Motivation zu erhalten», sagt Daepp. Vielen
Lehrkräften fehle deshalb schlicht das Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder.
Und für die erwachsene Betreuungsperson ist ein Ideenbüro zumindest am Anfang
aufwendig. Unter anderem deshalb sind in den vergangenen Jahren deutlich
weniger Ideenbüros entstanden, als die Gründer ursprünglich geplant hatten. Man
habe bewusst auf Werbung verzichtet, sagt Daepp.
Das Ideenbüro dürfe keiner Schule aufgedrängt werden. Mit dem neuen
Lehrplan 21 erhofft sie sich die Umsetzung ihrer Vision: dass Eigenschaften wie
soziale Kompetenzen, Kreativität und Eigeninitiative der Schüler künftig
häufiger gefragt sind in der Schule – allerdings ohne Bewertung. Geübt werden
könnten sie in Projekten wie dem Ideenbüro.
Verstehe das Konzept nicht ganz. Ist der Sozialarbeiter während der Beratung anwesend? Und Dinge wie soziale Kompetenzen, Kreativität und Eigeninitiative werden bereits jetzt gefördert - das hat doch nichts mit dem LP21 zu tun.
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