21. August 2016

Verstoss gegen Föderalismus

Als Thurgauer Grossrätin reichte ich 2003 eine Motion ein mit dem ­Begehren, es sei an der Primarschule nur Englisch anstelle von Französisch zu unterrichten. Eine Umfrage in den Schulgemeinden hatte ergeben, dass eine Fremdsprache, vorzugsweise ­Englisch, an der Primarschule genüge. Dieser Meinung waren drei Viertel der Lehrkräfte und eine grosse Mehrheit der Eltern. Den Schülern war und ist Englisch sowieso lieber als Französisch. Viele Schülerinnen und Schüler hätten bereits Mühe mit dem Fach Deutsch, abgesehen von den zahlreichen Migrantenkinder, denen zu Hause ­niemand bei den Aufgaben helfen könne. Auch das Übergewicht der Sprachfächer auf Kosten der mathematischen, handwerklichen und musischen Fächer wurde moniert.
Frühfranzösisch - eine Frechheit, Basler Zeitung, 15.8. von Marlies Mettler


Im März 2004 konnten sich die Erziehungsdirektoren nicht zu einer einheitlichen Lösung durchringen. Die Beratung meiner Motion war auf den 25. Mai 2004 traktandiert. Flugs kamen die Damen und Herren ­Regierungsräte nochmals zusammen, um den Thurgauer Entscheid zu ­verhindern und Einheit zu demonstrieren. So kam es zum Sprachenkompromiss. Er verlangt zwei Fremdsprachen an der Primarschule, lässt aber die ­Reihenfolge offen. Die Drohung der Erziehungsdirektoren wirkte. Die Motion wurde abgelehnt mit der Begründung, Harmos (2008 vom Thurgauervolk abgelehnt) stehe vor der Tür und sei für alle Kantone bindend. Gegner meiner Motion warnten, in unserem Kanton ein eigenes Züglein zu fahren. Vor allem müsse man mit dem Nachbarkanton Zürich Schritt halten können. Völlig überbewertet wurde das lösbare Problem beim Kantonswechsel. Aus all diesen Gründen scheiterte auch 2006, allerdings knapp, die Volksinitiative «Nur eine ­Fremdsprache an der Primarschule». ­Pädagogische Gründe schienen und scheinen im Sprachenstreit keine Rolle zu spielen. Unser Kanton hatte schon früh Pilotversuche mit Frühfranzösisch und engagierten Lehrkräften ­gestartet. Vergleiche einige Jahre später auf der Oberstufe ergaben ernüchternde Ergebnisse. Beim Leistungsvergleich war praktisch kein Unterschied ­auszumachen zwischen Schülern mit und jenen ohne Frühfranzösisch. Der kürzliche Entscheid des Thurgauer Grossen Rates, auf Französisch an der Primarschule zu verzichten, war ein Entscheid zum Wohle der Kinder.

Den Zwang vonseiten des Bundes finde ich einen groben Verstoss gegen unseren Föderalismus und die kantonale Hoheit über das Bildungswesen. Französisch wird ja nicht abgeschafft, sondern auf die Oberstufe verschoben, wo mit den Sekundarlehrkräften in Sprachen besser ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung stehen. Von Beherrschung einer Fremdsprache nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit kann keine Rede sein. Dazu braucht es einen längeren Aufenthalt im entsprechenden Sprachgebiet. Vom Bundesrat wird vor allem auf den Zusammenhalt in der Schweiz ­verwiesen. Wie wenn unser ­Zusammenhalt mit dem Kanton Tessin wegen des fehlenden Frühitalienisch ­weniger gross wäre als mit den ­Westschweizern! In diesem Sprachenstreit geht es um nichts anderes als um eine Machtdemonstration des Bundes. Das Wohl des Kindes bleibt auf der Strecke. Diese unselige Reformitis, die Millionen kostet und den Schülerinnen und Schülern nichts bringt, muss endlich gestoppt werden!

Marlies Mettler, aus Eschlikon (TG), ist ehem. Kantonsrätin und ehem. Schulpräsidentin.


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