18. September 2016

Kartell des Schweigens

Bildungspolitiker kämpfen mit allen möglichen Mitteln für das Frühfranzösisch. Wissenschafter, die den Nutzen anzweifeln, werden unter Druck gesetzt und diskreditiert.
Missliebige Ansichten werden unterdrückt. Illustration: Stephan Liechti
Kartell des Schweigens, NZZaS, 18.9. von Anja Burri
Simone Pfenninger ist eine ehrgeizige Frau. Ihrem Ziel, Professorin zu werden, ordnet die Sprachwissenschafterin am Englischen Seminar der Universität Zürich vieles unter. Im Alter von 29 Jahren startet sie ein Forschungsprojekt zum Fremdsprachenlernen. Von da an arbeitet sie nicht nur die Wochenenden, sondern auch viele Nächte durch. Sie hofft, eine in der Schweiz verbreitete Annahme bestätigen zu können: Je früher Kinder Sprachen lernen, desto besser lernen sie. Mit einem solchen Resultat würde sie in der internationalen Forschergemeinschaft für Aufsehen sorgen. Doch es kommt ganz anders.

Pfenningers Resultate stützen die Früher-desto-besser-Annahme nicht. Die Tests mit Zürcher Gymnasiasten zeigen vielmehr, dass sich der frühe Englischunterricht später nicht zwingend vorteilhaft auf die sprachlichen Fähigkeiten der Schüler auswirkt. Dieses Ergebnis bestätigt den bisherigen Stand der internationalen Forschung. In der Schweiz sind Pfenningers Resultate politischer Sprengstoff. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) muss durchsetzen, dass alle Deutschschweizer Kinder nicht nur Frühenglisch, sondern auch Frühfranzösisch lernen. Sie hat kein Interesse daran, den Beginn des Fremdsprachenunterrichts neu zu diskutieren. Das kriegt Simone Pfenninger deutlich zu spüren.

Der EDK-Präsident und baselstädtische Bildungsdirektor Christoph Eymann spricht der Wissenschafterin kurzerhand die Kompetenz ab, in der Fremdsprachendebatte mitzureden. «Aus Pfenningers Studie können keine Erkenntnisse für die aktuelle Diskussion abgeleitet werden», schreibt er in der «Basler Zeitung». In einer Forschungsübersicht über die relevanten internationalen Studien zum Fremdsprachenlernen habe Pfenningers Arbeit keinen Eingang gefunden, «weil sie offensichtlich qualitativ nicht genügte».

Auch im persönlichen Gespräch teilt man Pfenninger mit, was man von ihrer Arbeit hält. Eine der EDK nahestehende Person sagt ihr, sie wünschte, Pfenningers Studie wäre nie erschienen. Dass Pfenningers Forschung ungelegen kommt, erfahren am Rande eines Podiumsgespräches zum Sprachenstreit auch Journalisten. Der Veranstalter war im Vorfeld von EDK-Generalsekretär Hans Ambühl darauf hingewiesen worden, dass die Auswahl der Podiumsteilnehmer – unter ihnen Pfenninger – keine Freude mache. Es ist offensichtlich, dass die EDK Pfenninger ruhigstellen möchte.

Furcht um Karriere
Pfenninger ist nicht die einzige Wissenschafterin, die zwischen die politischen Fronten gerät. Weitere Forscher in Freiburg und in Schaffhausen fassen in zwei verschiedenen Arbeiten den Stand der Wissenschaft zur Frage des frühen Fremdsprachenlernens zusammen. Sie bestätigen im Grundsatz das, was Pfenninger sagt: Schüler, die ein paar Jahre später mit dem Fremdsprachenlernen beginnen, holen die Frühstarter relativ schnell ein. In der Forschungsübersicht des Instituts für Mehrsprachigkeit, das an die Universität Freiburg und die Pädagogische Hochschule Freiburg angegliedert ist, heisst es: Aus Sicht der Forschung sei die Annahme, dass jüngere Kinder in der Schule leichter Sprachen lernten, immer weniger wahrscheinlich. Trotzdem forme die Annahme «bis heute das Denken von Forschung und Bildungspolitik».

Wie Pfenningers Befunde kommen auch die beiden Studienübersichten bei der Bildungslobby schlecht an, so berichten es mehrere gut informierte Personen der «NZZ am Sonntag». In Gesprächen mit Vertretern der EDK oder kantonalen Bildungsbehörden und Politikern hätten dies die Wissenschafter zu spüren gekriegt. Diese hätten um ihre Karriere oder um Forschungsgelder fürchten müssen. Ein Wissenschafter gerät demnach in Konflikt mit seinem Arbeitgeber. Er muss belegen, dass er die unliebsame Studienübersicht nicht während seiner Arbeitszeit verfasst hat. Für den Forscher soll es eine harte Zeit gewesen sein. Die betroffenen Wissenschafter möchten sich auf Anfrage nicht zu diesen Vorfällen äussern. Zu gross ist ihre Angst, dass ihnen eine Offenlegung schaden würde. Die Schaffhauser Studienübersicht ist im Auftrag des kantonalen Lehrerverbands entstanden. Die Lehrergewerkschaft wollte damit eine Debatte über den frühen Fremdsprachenunterricht lancieren. Doch dazu sei es nie gekommen, sagt Cordula Schneckenburger, Präsidentin des Lehrerverbands. Ein Treffen mit den politisch Verantwortlichen des Kantons kam nicht zustande: «Man verweigerte uns das Gespräch, forderte sogar, dass wir uns in dieser Sache nicht mehr äussern sollten.»

Für Kampagnen missbraucht
Raphael Berthele, Professor für Mehrsprachigkeit, ist Co-Autor der Freiburger Studien–übersicht. Er reagiert mit einem Rückzug aus dem Sprachenstreit: «Solange die Debatte um das Fremdsprachenlernen so vergiftet ist, wird es für uns Wissenschafter schwierig, unsere Rolle wahrzunehmen», sagt er. Das könne bedeuten, dass er seine Forschungsfragen so gestalte, dass diese nicht von der Politik vereinnahmt werden könnten. Berthele kritisiert in der jetzigen Fremdsprachendebatte alle Seiten. «Resultate und Erkenntnisse werden selektiv herausgepickt, interpretiert und kritisiert. Dabei geht es immer darum, das eigene politische Ziel als «wissenschaftlich» zu verteidigen», sagt er. Als Wissenschafter befinde er sich oft in der unangenehmen Rolle, weil seine Resultate nicht nur von der Sprachenpolitik benutzt, sondern für politische Kampagnen missbraucht würden.

Die politische Diskussion über Forschungsresultate erstaunt Pfenningers Co-Autor und Mentor David Singleton. Er habe es noch nie erlebt, «dass die Debatte um den Einfluss des Alters beim Fremdsprachenlernen so politisiert wird wie in der Schweiz», sagt der international renommierte Sprachwissenschafter aus Dublin. Die Universität Zürich steht hinter Pfenningers Arbeit. Die Wissenschafterin erhält ihre Habilitation und wird für ihre Arbeit mit dem Mercator Award ausgezeichnet, einem Preis für herausragende Nachwuchsforscher. Simone Pfenninger reagiert denn auch anders als ihre Kollegen aus Freiburg und Schaffhausen auf die Kontroverse und geht in die Offensive. Sie gibt den Medien ausführlich Auskunft über ihre Resultate. Das Bild der grossen, blonden Frau mit den markanten Wangenknochen ist auf allen Kanälen zu sehen. Pfenninger ist auch deshalb eine gefragte Interviewpartnerin, weil sie markige Sätze in die Mikrofone sagt und ihre Resultate selbstbewusst in Politik ummünzt. «Englisch kann man tatsächlich auf die Oberstufe verschieben», sagte sie der «NZZ am Sonntag». Und im «Tages-Anzeiger» erklärte sie «das heutige Kurzfutterkonzept mit rund zwei Wochenlektionen in der Primarschule pro Sprache» kurzerhand «zum Scheitern verurteilt».

Es sind Aussagen, die von den politischen Gegnern der EDK benutzt werden. Sie dienen ihnen als Argumente wahlweise gegen das Frühenglisch oder das Frühfranzösisch. In mehreren Kantonen haben sie Volksinitiativen oder parlamentarische Vorstösse lanciert, um die zweite Fremdsprache wieder auf die Sekundarstufe zu verschieben. Der Streit darüber, wie die Kinder Fremdsprachen lernen sollen, hat die ganze Schweiz erfasst. Die Kontroverse ist so heftig, dass sich Kulturminister Alain Berset gezwungen sieht, eine rote Linie zu ziehen. Sollte es Kantone geben, die ihren Primarschülern nur noch Englisch lehren, sieht er den Zusammenhalt der viersprachigen Schweiz in Gefahr und will eingreifen.

Für die EDK steht enorm viel auf dem Spiel. Für sie geht es in der Fremdsprachenfrage nicht nur um den Zusammenhalt des Landes, sondern auch um viel Geld. Erst vor wenigen Jahren haben die meisten Kantone die zweite Fremdsprache auf die Primarstufe verschoben. Lehrer wurden ausgebildet. Neue Lehrmittel angeschafft. Eine so rasche Abkehr von diesem System würde erneut viel kosten und grossen Aufwand bedeuten. Es geht aber auch um Macht. Die Bildung ist einer der letzten wichtigen politischen Bereiche, in denen die Kantone das Sagen haben. Mit einem Eingreifen des Bundes käme der föderalistische Grundsatz, dass jeder Kanton für seine Volksschule verantwortlich ist, ins Wanken.

So erklärt EDK-Präsident Christoph Eymann seinen Angriff auf Simone Pfenninger mit politischen Motiven. Es sei ihm in keiner Art und Weise darum gegangen, mit seinen Äusserungen die Arbeit der Wissenschafterin geringzuschätzen, sagt Eymann, dies nachdem er in der «Basler Zeitung» die Qualität der Forschung anzweifelte. Es gebe aber Gruppierungen, die zwei Fremdsprachen auf Primarstufe infrage stellten oder den Start des Sprachenunterrichts in der dritten Klasse bekämpften, sagt Eymann: «Diese Gruppierungen führen diese Studie als ultimatives Beweismittel auf, und das ist überhaupt nicht angebracht.» Auf den Vorwurf, Wissenschafter gerieten im Sprachenstreit unter politischen Druck, reagiert er gelassen. Er wisse davon nichts. «Druckversuche gegen Wissenschafter finde ich grundsätzlich nicht gut.» Für den Politiker Eymann gibt es derzeit ohnehin zu viele Studien im Bildungsbereich. «Weniger wäre oft mehr», sagt er.

Mehr Geduld gefordert
Die Erziehungsdirektoren haben im Sprachenstreit auch Wissenschafter auf ihrer Seite. So haben sich über hundert Fachleute in einer öffentlichen Stellungnahme für zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe ausgesprochen. Viele von ihnen sind als Macher von Lehrplänen und Lehrmitteln oder als Lehrerausbildner in den frühen Fremdsprachenunterricht involviert. Sie plädieren für mehr Geduld: Aus ihrer Sicht kann die Wissenschaft den Fremdsprachenunterricht an der Primarschule erst seriös untersuchen, wenn dieser sich in allen Kantonen eingependelt hat.

Die EDK hat selber auch eine Forschungsübersicht in Auftrag gegeben. Internationale Wissenschafter wählten dafür nach bestimmten Qualitätskriterien Studien aus. Die Forschung von Simone Pfenninger kam nicht in diese Auswahl. Die Übersicht streicht verschiedene Vorteile des frühen Fremdsprachenunterrichts heraus. Aber auch sie macht Vorbehalte zum Grundsatz «Je früher, desto besser» sichtbar: Ältere Schüler lernten eine zweite Fremdsprache in der Regel rascher als jüngere. Die Autoren der Übersicht hüten sich jedoch davor, politische Schlüsse aus den Befunden zu ziehen. «Es steht in keiner Studie, dass es besser wäre, den frühen Sprachenunterricht auf später zu verschieben», sagt Stefan Denzler. Er ist stellvertretender Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF). Sie hat die von der EDK bestellte Forschungsübersicht zusammengefasst und veröffentlicht. Denzler sagt, in der Schweiz sei der Fremdsprachenunterricht noch kaum erforscht. Aufgrund einer einzelnen Studie ein ganzes Schulsystem zu ändern, wäre fahrlässig. Er spricht damit indirekt Pfenningers Studie an.


1 Kommentar:

  1. EDK: wehe, wenn sie losgelassen!
    Die EDK scheint sich immer mehr als von der Kantonshoheit im Bildungswesen abgehobenes Gremium zu gebärden, das offenbar keiner demokratischen Aufsicht untersteht. Druckversuche gegen Wissenschaftler ist das letzte Beispiel in einer längeren Reihe. Beim umstrittenen Projekt Lehrplan 21 wird vom Kartell verschwiegen, dass es mit der mysteriösen Kompetenzorientierung und dem konstruktivistischen „selbstgesteuerten Lernen“ um den radikalsten Systemwechsel in der Geschichte der Volksschule geht, der qualifizierte Lehrer und den bewährten Klassenunterricht abschaffen will. Schon in der NZZ vom 13.8.2013 wurde auf die finsteren Pläne der EDK am Volk vorbei aufmerksam gemacht: «Gewarnt sei vor einem staatlichen Umerziehungsplan, der in Form eines «modernen» Lehrplans daherkommt.» Entgegen den ständigen Behauptungen der EDK wurde mit dem Bildungsartikel von 2006 nicht über den Lehrplan 21 abgestimmt. Die Rechtsgrundlage des LP21 ist eine blosse Verwaltungsvereinbarung der EDK von 2010, mit der de facto die kantonalen Parlamente umgangen werden konnten. Wenn renommierte Wissenschaftler wie Simone Pfenninger die Schweiz verlassen, ist das ein Alarmzeichen. Das erfolgreiche Schweizer Bildungssystem darf nicht am Volk vorbei heimlich beerdigt werden!

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