Seit gut zwei Jahren erleben wir eine erbitterte Debatte über den
Fremdsprachenunterricht in der Primarschule. Der Zusammenhalt der Schweiz
scheint auf dem Spiel zu stehen. Beim Frühfranzösisch hat die politische
Auseinandersetzung zu einem regionalpolitischen Taktieren geführt; beim
Frühenglisch geht die Angst um, in einer globalisierten Welt nicht mehr
mithalten zu können. Es ist eine Auseinandersetzung unter Bildungspolitikern,
Lehrern und Eltern. Und diese tun so, als ob Kinder beliebig lern- und anpassungsfähig
wären. Sind sie aber nicht. Die Sache ist aus linguistischer Sicht wesentlich
komplizierter.
Frühenglisch - ein schulischer Leerlauf, St. Galler Tagblatt, 23.9. von Mario Andreotti
Je früher Kinder eine fremde Sprache lernen, desto besser, heisst es.
Stimmt. Aber nur, wenn sie die Sprache auf ihre Weise lernen dürfen, wenn die
Sprache in ihren Alltag eingebettet ist, wenn die Kinder ausgedehnte
Erfahrungen in einem ständigen sprachlichen Austausch mit Eltern und mit
anderen Bezugspersonen machen können. Diese Art, eine fremde Sprache
ganzheitlich zu erlernen, wird als synthetischer Spracherwerb bezeichnet. Er
ist in den ersten Lebensjahren am stärksten, nimmt im Verlaufe der Schulzeit
deutlich ab und erschöpft sich in der Pubertät weitgehend. An seine Stelle
tritt der analytische Spracherwerb, wie er uns aus der Oberstufe wohlvertraut
ist. Ein Spracherwerb also, der hauptsächlich im Auswendiglernen von Wörtern
und im Erlernen von Grammatikregeln besteht.
Doch bis zum Alter von zwölf Jahren sind Grammatikregeln – selbst im
Deutschunterricht – erfahrungsgemäss ein Buch mit sieben Siegeln. Erst mit dem
Einsetzen des abstrakten Denkens in der Oberstufe nimmt das bewusste
Verständnis für die Gesetzmässigkeiten der Sprache zu. Damit setzt die
Fähigkeit zum analytischen Spracherwerb ein. Kindern auf der Primarstufe eine
Fremdsprache analytisch beibringen zu wollen, ist, so gesehen, ein
pädagogischer Sündenfall.
Frühenglisch und Frühfranzösisch konnten die Erwartungen, welche die
Bildungspolitiker geweckt hatten, nie erfüllen. Berücksichtigt man die
Kriterien für einen erfolgreichen Spracherwerb, war ein Scheitern
unvermeidlich. Hier ein Wort, dort ein Reim, da ein Lied auf Englisch oder
Französisch mag für die Kinder unterhaltend und anregend sein, sprachkompetent
werden sie dabei nicht. Dafür ist der Fremdsprachenunterricht in der
Primarschule mit seiner minimalen Stundendotation viel zu isoliert. Da kommen
die Kinder auch mit der grössten Motivation auf keinen grünen Zweig. Es wäre
deshalb höchste Zeit für das Eingeständnis, dass die Primarschule in den
letzten zwölf Jahren einen kostspieligen und nicht kindgerechten pädagogischen
Irrweg eingeschlagen hat.
Doch, obwohl umfangreiche Studien und die Erfahrungen der
Oberstufenlehrer längst gezeigt haben, dass die Frühlerner den Spätlernern
sprachlich keineswegs überlegen sind, hält die Allianz aus Bildungspolitik,
Verwaltung und Wissenschaft, aus Angst, ihr Gesicht zu verlieren, und befeuert
durch enorme Mittel für die Umsetzung, am Frühfremdsprachenkonzept unbeirrt
fest. Dabei wird selbst Elementares einfach verdrängt: so etwa die Tatsache,
dass in der Deutschschweiz Aufwachsende zuerst die deutsche Hochsprache lernen
müssen, bevor sie sich an die Wortformen und die Syntax einer Fremdsprache
wagen können.
Wer in der Muttersprache argumentieren, einen Text verstehen oder einen
Aufsatz strukturieren kann, überträgt diesen Vorteil auf die Fremdsprache.
Dagegen wird das Erlernen von Fremdsprachen ohne eine gewisse Sicherheit in der
Muttersprache viel schwieriger. Es nützt wenig, wenn sich Kinder und
Jugendliche in drei oder noch mehr Sprachen nur auf bescheidenstem Niveau
ausdrücken können.
Durch das Anwachsen der kritischen Datenmenge in jüngster Vergangenheit
und den gleichzeitigen Mangel an Beweisen für die Langzeitwirkung von
Frühenglisch und Frühfranzösisch scheinen die Nerven der Befürworter zunehmend
blank zu liegen. Anders ist es nicht zu erklären, dass mahnende Stimmen häufig
verspottet oder ihre Studien von EDK-Vertretern als «unwissenschaftlich»
diffamiert werden. So geschehen mit der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger,
deren einziges «Vergehen» im Fazit ihrer aktuellsten Studie zum
Fremdsprachenerwerb besteht, wonach man Englisch getrost in die Oberstufe
verschieben kann. Nach ihr gilt ganz allgemein: Besser spät und intensiv als
früh und halbbatzig.
Elsbeth Schaffner schreibt folgenden Kommentar:
AntwortenLöschenDie Stellungnahme von Professor Andreotti, zum Frühfremdsprachenunterricht - insbesondere zum Frühenglisch - im St. Galler Tagblatt ist eine Wohltat!
Diese Diskussion wurde ins Dickicht gesteuert, statt sie sachlich zu führen. Die Herabwürdigung der wissenschaftlichen Arbeiten dauert schon länger und hat nun einen Höhepunkt erreicht.
Als Primarlehrerin votiere ich seit Jahren immer wieder dafür, dass wir uns in den ersten Schuljahren auf den Deutschunterricht konzentrieren müssten. Meine Auseinandersetzung mit dem Thema hat mich zur Überzeugung geführt, dass Englisch auf die Oberstufe gehört und Französisch in Verbindung mit Heimatkunde ab der 5. Klasse unterrichtet werden könnte.
Es ist unglücklich, dass mit der Fokussierung auf das Frühfranzösisch der „Sprachenstreit“ befeuert wurde. Die St. Galler Reallehrer setzten sich eine zeitlang für die Verschiebung des Fachs Englisch auf die Oberstufe ein. Leider ist diese Stimme mit der Zusammenlegung der Verbände verstummt.
Zu dritt haben wir vor zwei Jahren mehrere Nationalräte getroffen und Ihnen die Ergebnisse der Schaffhauser „Expertise Frühes Fremdsprachenlernen in der Primarschule“ und der Freiburger Studie von A. Lambelet u. R. Berthele vorgestellt. Offenbar mit wenig Erfolg. Die Bildungskommission stützt sich auf die EDK.
Seit der Frühenglisch-Offensive von Herrn Buschor sind wir mit dem Deutschunterricht an den Primarschulen unter Druck. Mir liegt diese Frage sehr am Herzen, weil ich tagtäglich miterleben muss, wie viele Schülerinnen und Schüler durch den Unterrichtsstoff gehetzt werden und keine Zeit haben, sich die deutsche Sprache in Ruhe anzueignen.
Es ist zu wünschen, dass der Empörung über die Sparmassnahmen auch einmal die Frage folgt, weshalb die Bildungskosten in den letzten Jahren derart in die Höhe geschnellt sind.