4. Dezember 2016

Rechtschreibeprogramme sind kein Ersatz für das Denken

Fehlerreiches Schreiben ist wie Sprechen mit vollem Mund: unanständig und der Verständigung abträglich. Warum trauen sich selbst im Bildungswesen nur noch wenige, diese Liederlichkeit zu bekämpfen?
Fehlerfreies Schreiben ist nicht alles, aber mehr Sorgfalt wäre zu wünschen, Illustration: Peter Gut
"Apostrophitis" und schlimmere Seuchen, NZZ, 2.12. von Urs Bühler



Zunächst ein Vorschlag zur Rettung des hiesigen Gastgewerbes: Erhielten die Wirte für jeden unterschlagenen Bindestrich auf Speisekarten eine Prämie ausbezahlt, sie könnten locker auf die Einführung einer Kostenpflicht für Leitung's Wasser verzichten. Pardon: Leitungswasser. Ob wir nun «Randen Suppe» löffeln müssen oder «Haus gemachtes Zitronen Mousse», ob uns «Butter zartes Rinds Filet» oder «Reh Pfeffer» ans Messer geliefert oder «Jahrgangs Champagner» ausgeschenkt wird: Das Divis müsste bald auf eine Liste der bedrohten Zeichen kommen. Kompensiert werden die Versäumnisse mit inflationär torkelnden Apostrophen, von der «Empfehlung des Chef's» bis zu den «Info's für's Personal». Das macht es leider nicht besser.

Das Netz der Flüchtigkeiten

Aber wir wollen hier nicht eine einzelne Branche geisseln. Was sie uns serviert, ist nur ein Abbild der Gesellschaft. Man könnte ebenso gut die Medien schelten. In der köstlich kommentierten Stilblüten-Sammlung «Schlagzeiten» spiegelt die «Sonntags-Zeitung» Woche für Woche, zu welch haarsträubenden Mängeln selbst sogenannte Qualitätsblätter im Akkord fähig sind. Ob man nun liest, dass «Verheiratete weniger häufig sterben als alleinstehende Personen», «der Druck auf die Schulleitern steigt», «die Bevölkerung abgenommen hat» (in Zeiten der Fettleibigkeit) oder «ein im Auto mitfahrender Hund die Stadtpolizei in Obhut nehmen konnte»: Es wird einem bewusst, wie eng formale Liederlichkeit und gedankliche Trägheit verbrüdert sind.
Im Halse stecken bleibt einem das Lachen spätestens angesichts des Umstands, dass die Beispiele fast ausnahmslos den Printausgaben entstammen. Dabei ist doch die eigentliche Wüste der sprachlichen Korrektheit das Internet. Dort schreiben auch wir Journalisten oft um mehr als eine Nuance liederlicher. Erstens ist das Arbeitstempo höher, zweitens baut man darauf, dass die Online-Leserschaft formale Mängel eher verzeiht – und drittens hat man im Hinterkopf, dass man in diesem Kanal des Unvollendeten ja ständig nachbessern kann. Das tut man im Tagesdruck dann aber doch kaum.
Oh ja, der elektronische Schriftverkehr. Wer beobachtet, wie wild im öffentlichen Raum getwittert, gesimst und sonst wie reingehämmert wird, möchte frohlocken: Es wird, wo doch vor nicht allzu langer Zeit die Mobiltelefonie noch einen Siegeszug des Fernmündlichen angedroht hatte, wieder geschrieben! Bloss leben sogenannte User die neue Schreibwut wie ungestüme Liebhaber aus, die vor lauter Lust jede Form vergessen. Tippt sie nicht ohnehin in Dialekt, foutiert sich die Generation Autokorrektur um Standards der Standardsprache. Es ist fast wie bei Carving-Ski, die limitierte Fahrer zum Temporausch verführen und so das Unfallrisiko erhöhen. Nur fällt man auf der Piste härter. Schon die Ablösung der Schreibmaschine durch den Computer barg das Risiko, flüchtigere Schreiber aus uns zu machen. Aber letztlich kann etwa die Möglichkeit, Sätze nach der ersten Fassung beliebig umzustellen, der Qualität durchaus zuträglich sein. Ob das die modernen Kommunikationskanäle auch sind? Der deutsche Autor Dieter E. Zimmer zählte vor einigen Jahren in tausend Sätzen auf Online-Plattformen weit über tausend Formfehler, er diagnostizierte etwa eklatante Schwächen beim Kennzeichnen von Wort- und Satzgrenzen. Man muss seine Qualifizierung («Internet-Verblödungssprache» mit «unnötigem Englisch-Deutsch-Kauderwelsch») nicht stützen, um seine Sorge zu teilen. Sein Fazit: Die meisten Schreiber seien zumindest im Internet völlig uninteressiert an Orthographie.
Natürlich: Tipp- und andere Fehler können und dürfen passieren, vielleicht auch in diesem Artikel. Und es geht hier weder um Blossstellung von Legasthenikern noch um eine von Leuten, die wenig Zugang zu Bildung haben. Wer aber aus Nachlässigkeit die Sprache mit Füssen tritt, dem mangelt's an Höflichkeit gegenüber Lesern: Die Orthographie zum Beispiel vereinheitlicht das Schriftbild und erleichtert so das Wiedererkennen von Wörtern. Fehlerreich schreiben ist also wie Sprechen mit vollem Mund: unanständig – und der Verständigung abträglich. Die notorische Verwechslung von «dass» und «das» etwa schadet der Klarheit. Dabei könnten Fehlbare diese Krankheit mit einer simplen Ersatzprobe bekämpfen, wenn sie sich dafür interessierten.
«Das nährt den Verdacht: Das Virus der Liederlichkeit hat längst auf viele sogenannt Unterrichtende übergegriffen.» 
Keine Gämse schleckt es weg und auch keine Gemse: Mit der Rechtschreibereform haben die Probleme wenig zu tun, ob man dieses Tier nun neu mit «ä» schreibt oder, wie diese Zeitung, die alte Schreibung bevorzugt. Natürlich haben die Reformer und ihre Vollstrecker an ein paar Stellen etwas gepfuscht, etwa indem sie als Hofknicks vor den Angelsachsen die Apostroph-Regeln liberalisiert und so der eingangs erwähnten Seuche Vorschub geleistet haben. Aber insgesamt ist das System vereinfacht und der Wegfall einiger Schreibvarianten so verschmerzbar wie damals, als die Schweiz das mitunter differenzierende Eszett abschaffte (als letzte hiesige Zeitung zog übrigens 1974 die NZZ mit). Ist dieses Land, seit es Masse und Maße nicht mehr zu unterscheiden weiss, etwa zu einer Brutstätte von Missverständnissen geworden?
Nein, das Problem sind nicht die Regeln an sich. Es ist das allgemein erhöhte Tempo, gepaart mit wachsender Gleichgültigkeit gegenüber Sorgfalt und formalen Kriterien, deren Beachtung kaum mehr jemand einzufordern wagt. In vielen Berufsausbildungen ist der Deutschunterricht inzwischen in die Allgemeinbildung integriert, wo kaum mehr Zeit für Grammatik bleibt. So sind Teenager mündlich oft stark, können sich prima präsentieren, aber die schriftliche Bewerbung, die Visitenkarte par excellence, bekommen sie nur fehlerhaft hin. Und die geistige Elite? Der Verfasser dieser Zeilen hatte als Deutsch-Experte auf diversen Stufen, etwa bei einer Erwachsenenmatura, Einblick in viele korrigierte Aufsätze; so manche Lehrer hatten zahlreiche Formfehler übersehen oder zumindest ungeahndet gelassen. Das nährt den Verdacht: Das Virus der Liederlichkeit hat doch längst auf viele sogenannt Unterrichtende übergegriffen (sie beherrschen etwa die Kommasetzung selbst nicht mehr oder fürchten, zu viel Rotstift könnte Heranwachsende in der freien Entwicklung ihrer Kreativität hemmen). Die anderen rufen in der Wüste: Zu lesen ist etwa von einer zunehmenden Anzahl Klagen über mangelhaften schriftlichen Ausdruck von Gymnasiasten. Auch aus Hochschulen sind gelegentlich Alarmsignale zu vernehmen, was die formale Korrektheit eingereichter Arbeiten betrifft.

Kaum Hoffnung auf Besserung

Wir wollen uns hier gar nicht auf die Frage einlassen, ob ein Niedergang der Sprachkompetenzen empirisch nachweisbar sei. Fest steht: Es gibt wenig Hoffnung auf Besserung. Die Motivation jedenfalls, sorgfältig zu schreiben, ist wohl auf einem allgemeinen Tiefpunkt. Sprachpflege ist verpönt, auch in Branchen, die täglich mit und an der Sprache arbeiten sollten. Selbst in Schreibstuben sind Leute, die Grammatik als vernachlässigbaren Aspekt ihres Handwerks ansehen, keine Seltenheit mehr. Und die Forschung steigt mit dem Fehlerteufel ins Bett, indem sie konstatiert, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation und als solches halt dem Wandel von Bedingungen unterworfen. Gerade Digital Natives könnten den Schreibstil samt Fehlerquote der Situation anpassen. Und sowieso mache formale Korrektheit noch keine guten Schreiberinnen.
Ja, sicher, eine gute Schusstechnik macht auch noch keinen tollen Fussballstürmer – aber sie erhöht doch sehr seine Chance, das Tor zu treffen. Dass selbst eine langjährige Schulpflegepräsidentin unlängst öffentlich behaupten konnte, Rechtschreibeprogramme und Autokorrektur würden das Lernen von Regeln ja bald überflüssig machen, ist vor diesem Hintergrund grotesk. Abgesehen davon, dass solche Programme längst nicht alle Regelverstösse erkennen, machen sie die Anwender gewiss nicht gescheiter. Denn korrektes Schreiben fördert das Denken. Die Nominalisierung eines Verbs zu erkennen, nach eingeschobenen Nebensätzen auch vor «und» ein Komma zu setzen oder dem «nämlich» herkunftsbedingt kein «h» einzuhauchen, hat nichts mit oberflächlichem Pauken zu tun, sondern damit, Strukturen der Sprache zu verstehen.
In einem Punkt ist den Anwälten der Fehlerflut indes recht zu geben: Formale Richtigkeit ist nicht alles. Ein besonderes Ärgernis ist heute auch die gedankenlose Reproduktion von Wörtern, die ein Mäntelchen der Korrektheit tragen: Man liest von «Anwohnenden», jede Chüngelizüchter-Versammlung wird zum «Event» erhoben, und Blähwörter wie «zeitnah» meucheln schlichte Klassiker wie «bald». Das aber würde nochmals eine Seite füllen.



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