17. Januar 2017

Film als Schulfach

Film als Schulstoff wird immer dringender. Doch das Thema zwischen Bildungspolitik und Kulturförderung droht aus dem Raster zu fallen.
Soll Film ein Schulfach werden? Schweiz am Sonntag, 16.1. von Lory Roebuck


Flimmern überall. Ob im Kino, auf unserem Handy, vor dem Fernseher oder in den grossen Einkaufsstrassen der Weltmetropolen – von allen Seiten prasseln bewegte Bilder auf uns ein. Ein unaufhörliches Bombardement an Sinneseindrücken. Wir sehen, wir nehmen wahr, wir empfinden. Verstehen wir auch? Wenn nicht, dann drohen wir in der Bilderflut zu ertrinken, dann sind wir filmische Analphabeten.

Um Bilder lesen zu können, um sie zu verstehen, müssen wir zuerst ihre Sprache lernen. Wir müssen lernen, dass bewegte Bilder genau wie Sprache aus Bausteinen zusammengesetzt sind, die, anders arrangiert, eine andere Bedeutung erzeugen können. Bloss: In der Schule lernen wir das nicht. Und das könnte ein Fehler sein. Schüler lesen und diskutieren während des Unterrichts Goethe, Dürrenmatt, Shakespeare – wichtig, zweifellos –, doch in den Pausen und zu Hause schauen sie Youtube, Filme, Serien. Stundenlang. Literatur wird im Unterricht kritisch reflektiert, Film dagegen bloss konsumiert.

Die Forderung nach Film als einem festem Bestandteil des Schulunterrichts wird aber immer lauter. Das Stichwort heisst Filmbildung. «Ziel der Filmbildung ist es nicht, nur den Inhalt eines Films zu verstehen, sondern auch die filmische Sprache und seine Gestaltungsmittel», erklärt John Wäfler der «Schweiz am Sonntag». Der Basler hat vor 15 Jahren das Wanderkino Roadmovie gegründet, das durch Schweizer Dörfer fährt und dort Primarschülern Schweizer Filme vorführt – samt Unterrichtsmaterial.

Filme lesen und machen
Wäfler ist einer der Initianten des Panels «Filmbildung jetzt!» an den Solothurner Filmtagen, an dem Experten auch aus Deutschland, Frankreich und Grossbritannien teilnehmen werden. Die EU, sagt Wäfler, sei der Schweiz in der Filmbildung voraus. So hat eine Expertengruppe unter der Leitung des Briten Mark Reid – einer der Podiumsgäste in Solothurn – im Auftrag der EU den Bericht «A Framework for Film Education» verfasst. Er enthält konkrete Vorschläge für Behörden und Lehrkräfte mit dem Ziel, Film zum festen Bestandteil des Unterrichts zu machen. Schulklassen sollen dabei nicht nur lernen, wie man Filme liest, sondern auch, wie man sie schreibt – sprich: macht.

Anhand eines Beispiels erklärt John Wäfler, weshalb man Letzteres nicht unterschätzen darf: «Bei Bewerbungen in den USA – und wohl bald auch bei uns – werden Videos immer wichtiger. Du schreibst nicht mehr nur einen Text, sondern drehst einen Film, in dem du dich vorstellst. Ob du einen guten Eindruck hinterlässt, hängt – wie bei einer schriftlichen Bewerbung – auch von einer guten Gestaltung ab.»

Mangelhafte Koordination
Bei uns gebe es keine übergreifenden Massnahmen wie in der EU, sagt Wäfler. Der wichtigste Akteur beim Thema Filmbildung auf nationaler Ebene ist das Bundesamt für Kultur (BAK), das sich um die Filmförderung in der Schweiz kümmert. Um die Förderung anderer Kultursparten dagegen kümmert sich die Kulturstiftung Pro Helvetia. Für die Filmbildung sei das bisweilen ein Nachteil, findet Wäfler: «Pro Helvetia hat vor einigen Jahren ein eigenes Programm zur Stärkung und Vernetzung der Kulturvermittlung lanciert. Da ist wahnsinnig viel gegangen.» Nicht so beim Film, der von Pro Helvetia nicht gefördert wird.

Ivo Kummer, Leiter der Sektion Film beim BAK, ortet das Hauptproblem in der Schweizer Filmbildung noch anderswo: «Was ist Schulstoff und was nicht? Hier fällt der Film zwischen Stuhl und Bank. Er ist im Lehrplan nicht vorgesehen und findet innerhalb der Medienkunde dann teilweise doch statt.»

Ist Filmbildung eine kulturpolitische oder eine bildungspolitische Angelegenheit? Fast scheint es, als würde die Zuständigkeit wie eine heisse Kartoffel zwischen den beiden Seiten hin- und hergeschoben. John Wäfler erklärt: «Es liegt oft nicht nur an der Sache selbst, sondern auch am Spardruck, dem Bund und Kantone ausgesetzt sind. Jeder versucht, dem anderen die Aufgaben zuzuschieben.»

Bildungspolitik ist eine kantonale Angelegenheit. Deshalb, sagt Ivo Kummer, kann sich das BAK punkto Filmvermittlung vor allem um Aktivitäten kümmern, die ausserhalb der Klassenzimmer stattfinden. Zum Beispiel mit finanziellen Beiträgen an Festivalprogramme für Schüler, oder an Projekte wie Roadmovie, sowie an Unterrichtsmaterial. «Wir sitzen zwar in einer Zwickmühle, sind aber aktiv», bilanziert Kummer.

Auf Kantonsebene wurden während der letzten Jahre Kulturvermittlungsstellen für die Schule eingerichtet. Die Bildungsdirektion Kanton Zürich (Sektor Schule & Kultur) beispielsweise bietet Schulklassen Vorführungen von aktuellen Filmen adn. «Vor Weihnachten hatten wir die Bestsellerverfilmung ‹Tschick› im Programm», erzählt Noémie Blumenthal, die dort das Dossier Film leitet. «Das hat sehr gut funktioniert, weil dieser Roman in den Schulen oft gelesen wird. Für die Jugendlichen ist es interessant zu sehen, wie die Textvorlage in Filmsprache übersetzt wird.»

Blumenthal arbeitet auch mit einem Filmpublizisten zusammen, der speziellere Stoffe auswählt – Charlie Chaplin oder Buster Keaton zum Beispiel – und diese den Schülern vorstellt. Nicht zuletzt bietet Schule & Kultur Workshops an, bei denen Schüler und Schülerinnen lernen, ihre eigenen Filme zu drehen.

In der Bilderflut schwimmen
Angesichts solcher Emsigkeit: Sollte der Film sogar als eigenständiges Schulfach eingeführt werden? «Diese Forderung hört man oft aus Filmbildungskreisen», sagt Roadmovie-Gründer John Wäfler. «Ich bin aber skeptisch. Wichtiger finde ich, dass man für Lehrer und Schulen praxisnahe Grundlagen schafft, um mit Filmen im Rahmen des bestehenden Lehrplans zu arbeiten, und den Austausch zwischen den Fachkräften analog dem Vermittlungsprogramm von Pro Helvetia fördert.» Noémie Blumenthal ist der Meinung: «Das hat Platz im bestehenden Curriculum. Was es braucht, sind attraktive Angebote und Unterstützung durch Fachkräfte.»

Wie also ist die Filmbildung in der Schweiz umzusetzen? BAK-Filmchef Ivo Kummer fragt, ob er ein bisschen übertreiben darf, und äussert seine Idealvorstellung: «Einmal im Monat mit der Schulklasse einen Film schauen, den man hinterher thematisiert, den man in gesellschaftliche Zusammenhänge setzt. Nicht nur die neuen Filme, sondern auch solche aus unserem reichhaltigen audiovisuellen Erbe. Und dann könnte man noch Regisseure und Autoren in die Schule einladen, die über den Film sprechen.» Eine Wunschvorstellung. Aber eine, die uns lehren könnte, in der Bilderflut zu schwimmen.


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