20. Januar 2017

Sitzstreiks sind Kollektivstrafen

An Schweizer Schulen werden neuerdings «Sitzstreiks» als Disziplinarmassnahme eingesetzt. Die Methode, die nach Gandhi und Kuschelpädagogik klingt, ist nichts anderes als eine Kollektivstrafe, wie man sie aus dem Militär kennt. 
Lehrer erpressen Schüler, Weltwoche, 19.1. von Allan Guggenbühl


«Wir bleiben hier, bis ihr kooperiert! Niemand verlässt das Zimmer!», teilt der Schulleiter den Oberstufenschülern mit. Diese sitzen verdattert, eingeschüchtert oder erstaunt hinter ihren Pulten. Dem Schulleiter sowie der Klassenlehrerin und der Schulsozialarbeiterin, die mit ernster Miene neben ihm sitzen, ist es ernst. Protest ist wirkungslos. Die Eltern wurden avisiert. Der Sitzstreik der Lehrpersonen soll den Schülern klarmachen, dass das Problem nur gelöst werden kann, wenn sie kooperieren.

Eine neue Schülerin wird gemobbt. Wenn sie sich im Unterricht meldet, verdrehen die Schüler und Schülerinnen die Augen, Informationen werden nicht an sie weitergeleitet, und ihr Schulmaterial ist zerstört worden. Als schliesslich ihr Schulheft mit Kot verschmiert wird und der Schulleiter einen verzweifelten Anruf der Mutter des Mädchens erhält, hat die Schulleitung genug. Da Ermahnungen und Gespräche nichts ergeben haben, entschliesst man sich zur ultimativen Massnahme: einem Sit-in beziehungsweise einem Sitzstreik. Die Klasse wird ins Schulzimmer zitiert und darf erst hinaus, wenn sie sich einsichtig zeigt und der Täter sich meldet. Die Lehrpersonen warten.

Die Idee des Sitzstreiks entwickelte der israelische Konfliktexperte Haim Omer. Kinder und Jugendliche brauchen nicht nur Verständnis, sondern es gilt als Erwachsener, Grenzen zu setzen und durch Präsenz zu signalisieren, dass sie ihr Verhalten ändern oder eine Tat eingestehen müssen. Dies soll im Rahmen einer Beziehung geschehen. Der junge Mensch realisiert so, dass er dem Erwachsenen nicht gleichgültig ist. Es geht um gewaltlosen Widerstand der Lehrpersonen, damit die Schüler einsichtig werden und kooperieren.

Wirren der Pubertät

Die Methode des Sit-in wird von vielen Schulen als Antwort auf Vorfälle, Vandalismus oder schwierige Klassendynamiken angewandt. Die hartnäckige Präsenz der Lehrpersonen signalisiere den Schülern, dass man sie ernst nimmt. Die Methode versteht sich als gewaltloser Widerstand der Autoritäten bei Fehlverhalten der Jungen. Wie so oft, wenn eine Botschaft aus der Ferne kommt und mit schönen Worten verpackt wird, sieht man nicht genau hin. Die Präsenz der Bezugsperson ist zweifellos bei Kindern und Jugendlichen wichtig.

Um die Wirren der Pubertät zu überwinden, brauchen vor allem Jugendliche ein Gegenüber, das sich mit ihnen respektvoll auseinandersetzt – Eltern und Lehrpersonen, die sie im Auge behalten, bei Vorfällen reagieren und ihnen helfen, einen Weg ins Leben zu finden. Voraussetzung ist, dass eine Beziehung besteht, man eine gemeinsame Geschichte teilt und sich emotional verbunden fühlt. Eine weitere Voraussetzung ist, dass beide Parteien die Möglichkeit haben, etwas umzusetzen. Wenn ein Vater drei Stunden auf seinen Sohn einredet, um ihn vom Kiffen abzubringen, dann beherzigt der Sohn das Anliegen des Vaters eventuell, weil er sich mit ihm verbunden fühlt und selber Entscheidungen treffen kann.
Schulklassen fehlt diese Einheit der Persönlichkeit. Es handelt sich um «Chaoshaufen», die auf dem Verordnungsweg zu Zwangsgemeinschaften zusammengestellt worden sind. Die Schüler haben sich nicht gegenseitig ausgewählt wie in einer Clique und wurden nicht aufgrund eines speziellen Persönlichkeitsprofils aufgenommen. Menschen begegnen sich, die sich aufgrund ihres Temperaments, ihres sozialen Hintergrunds oder ihrer Interessen sonst aus dem Weg gehen würden. Zwangsläufig kommt es zu internen Spannungen, Machtkämpfen, und es bilden sich Untergruppen. Wer Glück hat, findet einen Freund. Viele Schüler wähnen sich jedoch in ihrer Klasse von Fremden umgeben.

Die Beziehung zwischen Lehrpersonen und einer Klasse unterscheidet sich von einer persönlichen Beziehung. «Chaoshaufen» entwickeln in Ausnahmefällen einen einheitlichen Willen. Meistens fühlen sich die Schüler durch gewisse Mitschüler gestört. Sie ärgern sich über einen Prahlhans, der alles besser weiss, über Nörgler, die alles doof finden, oder Schwatztanten, die verbalen Schrott produzieren. Die Einheit, die Erwachsene in der Schülergruppe sehen, besteht oft nur auf dem Papier. Die Klasse solidarisiert sich vielleicht bei Abwehrreaktionen. Man rauft sich zusammen, weil die Überraschungsprüfung als ungerecht empfunden wird oder der Skitag abgesagt wurde. Lehrer brauchen sehr viel psychologisches Geschick, um sich als Führungspersonen durchzusetzen.

Oft entwickeln sich wertvolle Beziehungen zu einzelnen Schülern. Wer jedoch eine ganze Klasse zum Beziehungs-Gegenüber erklärt, wird enttäuscht werden.

Bei den Auftritten der Lehrpersonen vor der Klasse oder vor versammeltem Jahrgang handelt es sich weniger um Beziehungsarbeit, sondern um eine Machtdemonstration. Die Lehrpersonen reklamieren den Führungsanspruch und zwingen dem Chaoshaufen ihren Willen auf. Die Klasse hat zu gehorchen, ob sie einverstanden ist oder nicht.
Sit-ins sind problematisch, weil sie etwas anderes vorgeben. Es handelt sich um eine kollektive Strafe. Eher peinlich ist es, wenn man sich auf Gandhi oder Beziehungsarbeit beruft. Gandhi hat gegen die britische Kolonialmacht opponiert, war nicht Vertreter der Institution. Effektiv outet sich die Schule als Machtinstrument des Staates. Die Ordnung muss hergestellt werden.

Ansehen dank Time-out
Bei Machtdemonstrationen drohen Gegenreaktionen. Oft melden sich die Opportunisten zuerst. Sie mimen Zustimmung und übernehmen die Rhetorik der Mächtigen. Die üblichen Schuldigen werden genannt: Ein Mitschüler, den alle nicht mögen, soll sie zur Tat angestachelt haben. Andere Klassen halten dicht. Nicht aus Einsicht, sondern weil sie sich durch dominante Mitschüler einschüchtern lassen.

Dann gibt es Schüler, die inszenieren sich vor den Mitschülern als Rebellen, um beachtet zu werden. «Fuck you!», entgegnete ein Schüler dem Schulleiter und zeigte ihm den Mittelfinger. Ein Time-out war die Folge, sein Ansehen stieg. Schuldige melden sich. Sie gestehen die Tat, obwohl sie nicht oder fast nicht beteiligt gewesen sind. Es sind Kinder oder Jugendliche, die dazu neigen, sich schuldig zu fühlen. «Wieso habe ich den Mitschüler nicht zum Geburtstag eingeladen?», werfen sie sich vor, während die wirklichen Täter sich bedeckt halten. Eltern reagieren oft unwirsch auf Sit-ins. Sie hören vom Vorfall durch ihre Kinder und glauben deren Versionen – natürlich sind diese unschuldig und ist die Strafe überrissen. In Extremfällen suchen die Eltern nach einer Gelegenheit, um zurückzuschiessen. Solche Nachwirkungen bleiben meist unter dem Radar der Lehrpersonen, weil die erste Reaktion bei Machtdemonstrationen vorsichtiges Abwarten ist.
Bei Vorfällen muss die Lehrerschaft reagieren und auch repressive Massnahmen in Erwägung ziehen. Präsenz ist vor allem während des normalen Unterrichts wichtig. Man weiss, was die Schüler sorgt, wie es ihnen geht und welche Interessen sie hegen. Um nach Vorfällen richtig zu reagieren, muss man mit der internen Dynamik der Klasse vertraut sein: Welches sind die Anführer, die Nerds oder Schwindler? Welche Schüler können auf die Mitschüler einen Einfluss ausüben? Ein Sitzstreik der Lehrer mag ausnahmsweise angebracht sein, doch handelt es sich um eine klassische Erpressung oder eine kollektive Bestrafung der Schüler. Sich auf Gandhi zu berufen und die Massnahme als Beziehungsakt zu definieren, ist unehrlich.


Allan Guggenbühl ist Psychologe und Autor zahlreicher Bücher zum Thema Jugendgewalt und Konfliktmanagement. 

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