9. Februar 2017

Frivole Fremdsprachendidaktik vor dem Bankrott

Berner Gymnasien streichen aus den Französisch-­Aufnahmeprüfungen die Grammatik. Das kommt einer offiziellen Bankrotterklärung des ­Lernens von Fremdsprachen in der Primarschule gleich.
Frühfremdsprachen: Rien ne va plus, Weltwoche, 9.2. von Alain Pichard



Als mich die Anfrage der Weltwoche erreichte, den Beschluss der Berner Gymnasien zu kommentieren, gemäss dem Grammatik aus den Aufnahmeprüfungen in Französisch gestrichen werden soll, mischte sich eine ungewohnte Resignation in mein sonst so streitlustiges Naturell. Was soll man hierzu eigentlich noch schreiben?

Ich liess mir all die Aussagen eigenständig denkender Professorinnen, der befremdeten Lehrkräfte, der wütenden Eltern oder der kritischen Journalisten noch einmal durch den Kopf gehen, die sich in den vergangenen Jahren – medial oder im ­persönlichen Austausch – zum «neuen» Fremdsprachenunterricht geäussert hatten, und rief mir den überwiegenden Tenor ihrer Wortmeldungen in Erinnerung: ein aktionistisches Projekt als panische ­Reaktion auf den inszenierten Pisa-Schock; eine politische Kurzschlusshandlung praxisferner Bildungspolitiker; ein Unternehmen ohne auch nur halbwegs ­seriöse wissenschaftliche Basis; den Schul­harmonisierungsbestrebungen schon früh ­zuwiderlaufend; in sich selbst höchstgradig ­widersprüchlich und bar jeder Plausibilität hinsichtlich einer ­Verbesserung des Lern­erfolges. Die Liste der berechtigten Einwände – adäquat veranschaulicht – vermöchte eine ganze Ausgabe der Weltwoche zu füllen.

Ich entsinne mich, wie man in Gestalt des ­Passepartout-Projekts eine geradezu frivole, weltweit einzigartige Sprachdidaktik nachlegte, die ohne breite und unabhängig evaluierte Testphase in sechs deutschsprachigen oder bilingualen Kantonen eingeführt wurde. Ich empörte mich öffentlich darüber, welche Unsummen in diesen gigantischen schulischen Feldversuch – notabene mit einer ganzen Schülergeneration als unfreiwilligen Probanden – investiert wurden; die sechs Passepartout-Kantone dürften bislang rund hundert Millionen Franken dafür ausgegeben haben. Schliesslich mussten wir nur noch lachen, als wir hörten, dass das teuerste und angeblich bestmöglich getestete Lehrmittel aller Zeiten nach exakt einem Jahr bereits umfassend überarbeitet werden musste und so vermutlich heimlich und schrittweise in ein eher traditionelles Lehrmittel zurückverwandelt wird.

Freilich ohne dass sich die Verantwortlichen Asche aufs Haupt streuten. Einflussreiche Menschen pflegen ihr Gesicht nicht zu verlieren – koste es, was es wolle. Zu diesem Zweck dürfen Potemkinsche Dörfer sogar zu Metropolen ausgebaut werden. Nun also hat die grosse Französischreform die Gymnasien erreicht. Mit skeptischer Neugier, so der Bieler Gymnasiallehrer Roger Hiltbrunner in der Berner Zeitung, wolle man dieser Herausforderung begegnen. Man müsse die Schüler dort abholen, wo sie seien, und man könne nicht etwas prüfen, was die Schüler gar nicht durchgenommen hätten. Und so schafft man die Grammatikprüfungen halt einfach ab. Allerdings werde man, so Hiltbrunner, dies ­alles im Unterricht nachholen müssen. Damit sind die letzten Masken dieser sich auf Verdrehung, Diffamierung und Voluntarismus begründenden Reform gefallen. Das ist dann doch der Gipfel der Heuchelei: Die Gymnasiasten bekommen den verpassten Strukturaufbau nachgeliefert, während die grosse Mehrheit unserer Schüler auf diesen verzichten muss.

Die Frühfremdsprachen waren ursprünglich das Projekt einer Kaste besonders bildungsambitionierter Mittelstandseltern, welche der trügerischen Losung «Je früher, desto besser» auf den Leim gekrochen waren. Teure Privatschulen hatten mit zweisprachigem Unterricht und Frühenglisch gelockt. Die trägen öffentlichen Schulen gerieten unter Druck. Alsbald wurde durch willfährige Theoretiker ein untaugliches Konzept mit hanebüchenen Lehrmitteln aus dem Boden gestampft. Der Rest ist Geschichte.

Doch vergessen wir nicht: Viele Menschen sind mit diesen Entwicklungen überaus zufrieden. Bildungspolitiker schmücken sich mit dem Etikett von Erneuerung und Innovation; Lehrmittelverleger machen das Geschäft ihres Lebens; Dozierende der pädagogischen Hochschulen dürfen die Lehrkräfte von der Unterrichtsfront mit ausladenden Weiterbildungen beglücken und mit Evaluations- und Forschungsaufträgen rechnen; Eltern sehen ihre Kinder vordergründig für die Globalisierung gerüstet und sind froh darüber, dass man im einstigen Selektionsfach Französisch heute viel leichter zu einer guten Note kommt. Und wenn diese sogar richtig gut sein sollte, kann damit gerade noch die Drei in Mathematik kompensiert werden. Ende gut, alles gut, n’est-ce pas?


Alain Pichard ist Lehrer und Gemeindepolitiker (GLP) in Biel und einer der profiliertesten Kritiker der Reformen im Bildungswesen der letzten Jahre.

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