Die Erinnerungen an die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts
verblassen. Davon profitieren autoritäre Führerfiguren. Verstärkt wird dies
durch die Abwertung des Geschichtsunterrichts an den Schulen.
Wie immer geht Deutschland auf dem Holzweg voraus, die Schweiz folgt willig, Bild: www.der-bank-blog.de
Der Niedergang des Schulfachs Geschichte hilft den Populisten, NZZaS, 5.2. von Felix E. Müller
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Niemand lebt mehr, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hat. Bald werden die
letzten Schergen von Auschwitz gestorben sein, bald die letzten ihrer Opfer.
Stalins Gulag, der Bau der Berliner Mauer, sowjetische Panzer in Prag? Was da
war, vermögen viele nur noch bruchstückhaft auf die Reihe zu bringen. Wir
erleben gerade, wie bisherige Fixpunkte der kollektiven Erinnerung im Nebel des
Vergessens verschwinden, wie das 20. Jahrhundert wegdriftet in eine diffuse
Vergangenheit, die anscheinend mit dem Heute etwa so viel zu tun hat wie der
Zweite Punische Krieg mit dem Brexit.
Nun gehört das Vergessen zu den normalen Prozessen des menschlichen
Gedächtnisses. Vielleicht drei Generationen vermag ein Einzelner als
persönliche Erinnerung zu überblicken. Danach wird die Vergangenheit abstrakt.
Doch im momentanen Fall ist diese rasch voranschreitende
Geschichtsvergessenheit fatal, weil das 20. Jahrhundert nicht einfach ein
beliebiges war, sondern bisher einmalige Katastrophen über die Menschheit
brachte: Weltkriege, Atombomben, den Holocaust – es war eine Epoche der
unvorstellbaren Grausamkeiten und einer unvorstellbaren Zahl von Opfern. Dieses
Jahrhundert sollte deswegen als Fixpunkt dienen, damit sich die Apokalypse nie
mehr wiederhole. Dieser Vorsatz hat die Nachkriegsordnung geprägt und Europa
drei Generationen lang Frieden und Stabilität beschert.
Doch jetzt verblassen die Erinnerungen. Prompt erleben autoritäre
Führungsfiguren eine Renaissance, wird internationale Kooperation verdammt,
nimmt der Fremdenhass zu, gilt der Nationalstaat wieder als Lösung für alle
Probleme der Gegenwart. Dabei hätten, sagte der deutsche Finanzminister
Wolfgang Schäuble kürzlich, der Nationalstaat und starke Führer Europa in der
Vergangenheit vor allem grosse Probleme eingebrockt.
Tempi passati! Und so rufen die Populisten von heute etwa «Make America
great again». Denn früher, da war alles besser. Die Vergangenheit ist da ein
weiches Federbett, in dem gefühlige Geschichtsbilder nostalgische Wärme
abstrahlen. Welchen Zeitpunkt in der Geschichte der USA möchte Trump
restaurieren? Den Zweiten Weltkrieg, Vietnam, das atomare Wettrüsten der 1950er
Jahre? So präzise sollte man nicht fragen. Geschichte dient da nicht mehr als
kritischer Referenzrahmen für die Beurteilung und Einordnung gegenwärtigen
Geschehens, sondern als Requisitenraum für politisch opportunistische
Inszenierungen.
Erleichtert wird der jetzt zu beobachtende Erinnerungsverlust durch den
Niedergang des Geschichtsunterrichts an der Schule. Wie immer bei pädagogischen
Trends ist dabei Deutschland auf dem Holzweg vorausgegangen, worauf die Schweiz
willig folgte. Der Abschied von der Faktenvermittlung im Unterricht und die
Umarmung Kompetenzen-basierter Lehrpläne mussten gerade einem Fach wie
Geschichte speziell schaden, wo es rasch um viele Fakten geht. In Deutschland
kam der Pisa-Schock dazu, der die Bildungspolitik noch stärker auf die gut
messbaren Fächer wie Mathematik oder Naturwissenschaft fokussieren liess.
Mit dem Lehrplan 21 verschwindet nun in der Schweiz Geschichte als
eigenständiges Fach auf der Sekundarstufe 1. Das Thema wird untergebracht in
einem Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften», wobei die Zahl der Stunden,
die dafür zur Verfügung steht, schrumpft. Peter Gautschi, Professor für
Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern, sagt, im Kanton
Aargau seien früher an der Bezirksschule 320 Lektionen Geschichte pro Jahr
angeboten worden. Mit dem Lehrplan 21 halbiere sich diese Zahl zumindest. Seine
Kollegin Béatrice Ziegler von der PH Aarau ergänzt, der Kanton Zürich
unterbiete sogar die Regelungen des Lehrplans 21. Und im Lehrplan der
Berufsschulen sei Geschichte gar vollständig verschwunden. «Man sieht den
geringen Stellenwert von Geschichte besonders deutlich am Umfang der
Lehrmittel, die gleichzeitig in mehreren Ländern verwendet werden. Hier haben
diejenigen für die Deutschschweiz mit Abstand am wenigsten Seiten», sagt
Gautschi. Etwas besser ist die Situation bei den Gymnasien, wenn auch dort das
Fach Federn lassen musste.
So nimmt das Geschichtswissen bei den Jugendlichen drastisch ab. Eine
Studie hat vor einigen Jahren in Deutschland ergeben, dass nur jeder Dritte
weiss, wer die Berliner Mauer errichtet hat. Ebenfalls jeder Dritte hält Konrad
Adenauer und Willy Brandt für DDR-Politiker. Und viele waren sich nicht
schlüssig, ob es sich beim Nazi-Regime und bei der DDR um Diktaturen gehandelt
hat. Man muss befürchten, dass die Ergebnisse in der Schweiz auf der Ebene
Volksschule nicht unbedingt viel besser wären.
Wer so mit diesem Fach umgeht, muss sich nicht wundern, wenn die
Anfälligkeit für Verführungen mit Geschichte steigt. Wer keine Kenntnisse mehr
hat von den Katastrophen, welche autoritäre Regime verursacht haben, der wird
sein Schicksal bedenkenlos in die Hände von Marine Le Pen legen, die alte
Grösse verspricht und damit gleich die Lösung aller Probleme der Gegenwart.
Was soll man tun? Geschichte unterrichten, mehr Geschichte, richtige
Geschichte! Denn sonst wird das eintreten, was der spanische Philosoph George
Santayana einst gesagt hat: Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu
verdammt, sie zu wiederholen.
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