5. Februar 2017

Niedergang des Fachs Geschichte

Die Erinnerungen an die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts verblassen. Davon profitieren autoritäre Führerfiguren. Verstärkt wird dies durch die Abwertung des Geschichtsunterrichts an den Schulen.
Wie immer geht Deutschland auf dem Holzweg voraus, die Schweiz folgt willig, Bild: www.der-bank-blog.de
Der Niedergang des Schulfachs Geschichte hilft den Populisten, NZZaS, 5.2. von Felix E. Müller

 
Niemand lebt mehr, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hat. Bald werden die letzten Schergen von Auschwitz gestorben sein, bald die letzten ihrer Opfer. Stalins Gulag, der Bau der Berliner Mauer, sowjetische Panzer in Prag? Was da war, vermögen viele nur noch bruchstückhaft auf die Reihe zu bringen. Wir erleben gerade, wie bisherige Fixpunkte der kollektiven Erinnerung im Nebel des Vergessens verschwinden, wie das 20. Jahrhundert wegdriftet in eine diffuse Vergangenheit, die anscheinend mit dem Heute etwa so viel zu tun hat wie der Zweite Punische Krieg mit dem Brexit.

Nun gehört das Vergessen zu den normalen Prozessen des menschlichen Gedächtnisses. Vielleicht drei Generationen vermag ein Einzelner als persönliche Erinnerung zu überblicken. Danach wird die Vergangenheit abstrakt. Doch im momentanen Fall ist diese rasch voranschreitende Geschichtsvergessenheit fatal, weil das 20. Jahrhundert nicht einfach ein beliebiges war, sondern bisher einmalige Katastrophen über die Menschheit brachte: Weltkriege, Atombomben, den Holocaust – es war eine Epoche der unvorstellbaren Grausamkeiten und einer unvorstellbaren Zahl von Opfern. Dieses Jahrhundert sollte deswegen als Fixpunkt dienen, damit sich die Apokalypse nie mehr wiederhole. Dieser Vorsatz hat die Nachkriegsordnung geprägt und Europa drei Generationen lang Frieden und Stabilität beschert.

Doch jetzt verblassen die Erinnerungen. Prompt erleben autoritäre Führungsfiguren eine Renaissance, wird internationale Kooperation verdammt, nimmt der Fremdenhass zu, gilt der Nationalstaat wieder als Lösung für alle Probleme der Gegenwart. Dabei hätten, sagte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble kürzlich, der Nationalstaat und starke Führer Europa in der Vergangenheit vor allem grosse Probleme eingebrockt.

Tempi passati! Und so rufen die Populisten von heute etwa «Make America great again». Denn früher, da war alles besser. Die Vergangenheit ist da ein weiches Federbett, in dem gefühlige Geschichtsbilder nostalgische Wärme abstrahlen. Welchen Zeitpunkt in der Geschichte der USA möchte Trump restaurieren? Den Zweiten Weltkrieg, Vietnam, das atomare Wettrüsten der 1950er Jahre? So präzise sollte man nicht fragen. Geschichte dient da nicht mehr als kritischer Referenzrahmen für die Beurteilung und Einordnung gegenwärtigen Geschehens, sondern als Requisitenraum für politisch opportunistische Inszenierungen.

Erleichtert wird der jetzt zu beobachtende Erinnerungsverlust durch den Niedergang des Geschichtsunterrichts an der Schule. Wie immer bei pädagogischen Trends ist dabei Deutschland auf dem Holzweg vorausgegangen, worauf die Schweiz willig folgte. Der Abschied von der Faktenvermittlung im Unterricht und die Umarmung Kompetenzen-basierter Lehrpläne mussten gerade einem Fach wie Geschichte speziell schaden, wo es rasch um viele Fakten geht. In Deutschland kam der Pisa-Schock dazu, der die Bildungspolitik noch stärker auf die gut messbaren Fächer wie Mathematik oder Naturwissenschaft fokussieren liess.

Mit dem Lehrplan 21 verschwindet nun in der Schweiz Geschichte als eigenständiges Fach auf der Sekundarstufe 1. Das Thema wird untergebracht in einem Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften», wobei die Zahl der Stunden, die dafür zur Verfügung steht, schrumpft. Peter Gautschi, Professor für Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern, sagt, im Kanton Aargau seien früher an der Bezirksschule 320 Lektionen Geschichte pro Jahr angeboten worden. Mit dem Lehrplan 21 halbiere sich diese Zahl zumindest. Seine Kollegin Béatrice Ziegler von der PH Aarau ergänzt, der Kanton Zürich unterbiete sogar die Regelungen des Lehrplans 21. Und im Lehrplan der Berufsschulen sei Geschichte gar vollständig verschwunden. «Man sieht den geringen Stellenwert von Geschichte besonders deutlich am Umfang der Lehrmittel, die gleichzeitig in mehreren Ländern verwendet werden. Hier haben diejenigen für die Deutschschweiz mit Abstand am wenigsten Seiten», sagt Gautschi. Etwas besser ist die Situation bei den Gymnasien, wenn auch dort das Fach Federn lassen musste.

So nimmt das Geschichtswissen bei den Jugendlichen drastisch ab. Eine Studie hat vor einigen Jahren in Deutschland ergeben, dass nur jeder Dritte weiss, wer die Berliner Mauer errichtet hat. Ebenfalls jeder Dritte hält Konrad Adenauer und Willy Brandt für DDR-Politiker. Und viele waren sich nicht schlüssig, ob es sich beim Nazi-Regime und bei der DDR um Diktaturen gehandelt hat. Man muss befürchten, dass die Ergebnisse in der Schweiz auf der Ebene Volksschule nicht unbedingt viel besser wären.

Wer so mit diesem Fach umgeht, muss sich nicht wundern, wenn die Anfälligkeit für Verführungen mit Geschichte steigt. Wer keine Kenntnisse mehr hat von den Katastrophen, welche autoritäre Regime verursacht haben, der wird sein Schicksal bedenkenlos in die Hände von Marine Le Pen legen, die alte Grösse verspricht und damit gleich die Lösung aller Probleme der Gegenwart.

Was soll man tun? Geschichte unterrichten, mehr Geschichte, richtige Geschichte! Denn sonst wird das eintreten, was der spanische Philosoph George Santayana einst gesagt hat: Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

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