24. Februar 2017

Regulierung statt Harmonisierung

Der Lehrplan 21 sollte eine Reform sein gegen den Kantönligeist im Bildungswesen. Er wurde zum Reglementiermonster.

Lehrplan 21: Das regulierte Schulkind, Beobachter, 20.2. von Susanne Loacker


Die Idee: Schweizweite Harmonisierung der Schule

2006 nahm das Schweizer Stimmvolk das sogenannte HarmoS-Konkordat (kurz für «interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule») mit 86 Prozent Ja-Stimmen an. Das Konkordat, das von der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) formuliert wurde, soll die Qualität und die Durchlässigkeit des Schweizerischen Schulsystems sichern und Mobilitätshindernisse abbauen.
Es hat konkret folgende Inhalte:

§  Die obligatorische Schulzeit wird schweizweit auf elf Jahre verlängert, anstelle des bisherigen Kindergartens wird eine Vorschule oder Eingangsstufe eingeführt.

§  Es werden für die ganze Schweiz übergeordnete Ziele für die obligatorische Schule eingeführt.

§  Es sollen Instrumente der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung auf nationaler Ebene benannt werden, um die Anforderungen anzugleichen.

§  Es sollen Instrumente für verbindliche Bildungsstandards bestimmt werden.

§  Die Schule soll an nationale und internationale Portfolios angepasst werden.

Seit der Abstimmung hat die Erziehungsdirektion an einem gemeinsamen Lehrplan für die deutsch- und mehrsprachigen Kantone gearbeitet, der die Volksschule vereinheitlichen und allen Deutschschweizer Kindern einheitliche Lernziele geben soll. Der neue Lehrplan ist vermutlich das grösste Bildungsprojekt, an das sich die Schweiz je gewagt hat: Fast acht Jahre lang dauerte die Arbeit, insgesamt waren rund 200 Fachleute beteiligt. Ende 2014 wurde die überarbeitete und gekürzte Version des Lehrplans 21 von den Deutschschweizer Erziehungsdirektorinnen und direktoren freigegeben. Nun entscheidet jeder Kanton gemäss den eigenen Rechtsgrundlagen über die Einführung. Die Einführung war in den meisten Kantonen auf das Schuljahr 2017/18 vorgesehen. Bereits gibt es aber Widerstand und Verschiebungspläne. Ob der Lehrplan 21 von den Lehrern je genutzt wird, ist offen.

Die Kritik: «Ein Bürokratiemonster»

§  Übers Ziel hinaus geschossen: Die Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungskommissionen (EDK) hat den Auftrag allzu wörtlich genommen. HarmoS sollte die Schule einfacher machen, doch herausgekommen ist ein bürokratisches Monster: Rund 200 Fachleute haben nach acht Jahren Arbeit hinter verschlossenen Türen ein Konvolut vorgelegt, das in der ersten Version 557, in der abgespeckten Ausgabe immer noch 470 Seiten dick war. Über die Gesamtkosten schweigt man sich aus.

§  Bürokratiemonster: Der neue Lehrplan umfasst 363 Kompetenzen, unterteilt in 2304 Kompetenzsstufen; in der ersten Version waren es sogar 819 mehr. So zerlegt man Schule und auch Schüler in ihre Einzelteile – so lange, bis man das Ganze aus den Augen verliert. 

§  Fragwürdige Ausrichtung: Das Zauberwort der neuen Bildungsbibel heisst Kompetenzen. Man misst nicht mehr, was die Schüler wissen, sondern was sie können sollen. Das klingt zwar super, doch der Lehrplan 21 definiert nur in wenigen Bereichen, welche Bildungsinhalte die Lehrer den Schülern beibringen sollen. An erster Stelle steht das Erarbeiten von messbaren Kompetenzen, die meist an beliebig austauschbaren Inhalten erworben werden können. 

§  Die Schwachen haben wenig Chancen: Eine Schulklasse ist heute ein gruppendynamisches, von hierarchischen Strukturen geprägtes Gefüge, in dem, wenn der Lehrer schlau ist, auch einmal der Schwächere vom Stärkeren lernt – weil der Lehrer das so aufgleist. Isoliert man dagegen die Schüler, lässt sie quasi-individuell von einem Lern-Coach betreuen, werden die Guten rasant schnell noch besser – und die Schlechten schlechter. Auf der Strecke bleibt die Chancengleichheit.

Zusammenfassend kritisiert Erziehungswissenschaftler Walter Herzog: «Der Lehrplan 21 nützt all denen, die die Schule stärker kontrollieren und vermessen möchten, denjenigen, die Tests entwickeln und durchführen wollen, weil sie damit Geld verdienen. Messbarkeit per se bringt nichts. Die Sau wird ja auch nicht fetter, bloss weil man sie wiegt.»
Man müsse ernsthaft befürchten, dass sich die Lehrer künftig vor allem an den Prüfungen orientierten. «Das nennt man ‹teaching to the test›, Lehren für die Prüfung – und genau das bringt kein sehr nachhaltiges Lernen.»

Die Befürworter: «Lehrplan bietet Orientierung»

Der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) sieht die ganze Kritik nicht so: «Der Lehrplan 21 nützt denen, die wissen wollen, was in der Volksschule läuft, denen, die Lehrmittel herstellen, denen, die Tests anbieten, und denen, die sich beim Unterrichten und Lernen orientieren wollen», sagt Jürg Brühlmann, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle beim LCH.

Auf die Frage, was denn am Schluss von der Vision und vom Projekt Lehrplan 21 übrig bleiben werde, meint Anita Fetz lapidar: «Ein rein nutzenorientiertes Bildungsverständnis – und ein ordinäres Sparprogramm.» Wenn es weiträumig umgesetzt werde, schaffe es langfristig eher die öffentlichen Schulzimmer ab, statt die kantonalen Unterschiede zu überwinden.


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